Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. In dieser Woche folgt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz dem Leipziger Autor Jan Röhnert auf seiner Reise nach Italien und lernt die kaum bekannten Capri-Gedichte Rilkes kennen.
Jan Röhnert, der als Essayist, Lyriker, Übersetzer, Autor und Professor für neuere und neueste Literatur in vielen Formen zuhause ist, scheut diese literarische Vielfalt auch in seinem Buch über Rilkes Capri-Gedichte nicht. In »Mitschriften von Küstenstreifzügen«, einem »Denktagebuch« mit »Augenblicksnotizen« und Aphorismen, nähert sich Röhnert den im Winter und Frühjahr 1907/08 entstandenen Gedichten Rainer Maria Rilkes. Was zunächst eine literaturwissenschaftliche Einordnung erfordert (die Capri-Lyrik wurde nie eigenständig publiziert, hatte aber eine große Bedeutung für Rilke selbst), wird rasch zu einer Wanderung durch den poetologischen und inhaltlichen Reichtum der Rilke-Texte und den ihnen vorausgehenden Mythos Capri. Vom 4. bis zum 30. März weilt Röhnert vor der Insel, durchstreift die Küste und zugleich den immensen Horizont der antiken Götterwelt und deren Einflüsse in die spätere Literatur Rilkes. Aber nicht nur der Kenner spricht hier, sondern auch der Schriftsteller: »Erfrorener Falter auf morgendlichem Teer. Zwei unbekannte, nachtschwarze blütengelb- und rotumrankte Augen auf filigranem Seidenpapierflügelpaar, von Eros verlassene Psyche, an der die Welt vorübersieht.« Es ist ein Text, der sich allem öffnen und verpflichten will: Der Literaturwissenschaft und der Literatur selbst. Diese Verbindung ist es, die Röhnerts Buch auch für interessierte Laien lesenswert macht. Hier wird ein Schreiben interpretiert und ausgeleuchtet, eingeordnet und vermessen, ohne das eigene Schreiben zurückzustellen. Hier begegnet ein Schriftsteller dem anderen.
Jan Röhnert. Am Sirenen-Kap. Rilkes Capri-Gedichte. Berlin: Schwabe 2021. 177 S., 23 €
LINN PENELOPE MICKLITZ