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Magna cum Leidenschaft – Wissenschaft als Beruf(-ung)

Der Mittelbau lebt und arbeitet prekär

  Magna cum Leidenschaft – Wissenschaft als Beruf(-ung) | Der Mittelbau lebt und arbeitet prekär

So manche Forscherinnenkarriere beginnt kurios. Zum Beispiel die von Li Jie. Die 31-Jährige schrieb sich an der Northeastern University in Shenyang, China, für ein Germanistikstudium ein, weil sie eine deutsche Musikband auf die Idee brachte: Tokio Hotel. Während Tom und Bill Kaulitz bei manchen Fans für Ohnmachtsanfälle sorgten, weckten sie bei Li Jie wissenschaftliches Interesse. Im September 2021 hat sie nun an der Uni Leipzig ihre erste Promotion im Fach Germanistik abgeschlossen. Für ihre Doktorarbeit am Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie über die »Experimentelle Untersuchung und synergetische Modellierung des verbalen Arbeitsgedächtnisses beim Übersetzen« erhielt sie die Auszeichnung magna cum laude.

Seit fünf Jahren lebt Li Jie in Deutschland, ein Stipendium hatte ihr im Jahr 2016 die Möglichkeit dazu gegeben. »Ich will mein ganzes Leben in der Wissenschaft tätig sein«, sagt sie, denn sie habe ihr Hobby zum Beruf gemacht. Li Jies zweite Promotion steht bereits in den Startlöchern. Sie forscht, unterrichtet und versucht, zwischen alldem ihre Balance zu finden. Aber das ist gar nicht so einfach.

Erst vor Kurzem machten Wissenschaftlerinnen mit dem Hashtag #ichbinhannah auf sich und ihre prekäre Arbeitssituation aufmerksam. Auch das u:boot hat einen Blick auf die schwierige Lage in der Wissenschaft geworfen. Befristete Arbeitsverträge, ständige Wohnortwechsel, prekäre Bezahlung – viele Forschende hangeln sich von einem Zeitvertrag zum nächsten. Grund dafür ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eigentlich sollte das Gesetz den endlosen Befristungen im Wissenschaftsbetrieb entgegenwirken, hatte aber den gegenteiligen Effekt: Mittlerweile wird kaum noch jemand fest angestellt. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2019 nur 13 Prozent des wissenschaftlichen Personals einen festen Job. Die Hochschulen müssen sparen, die Chancen auf eine Professur stehen schlecht. Manchmal nach dem Feierabend, wenn sie allein zu Hause ist, beschleicht Li Jie ein seltsames Gefühl der Unsicherheit. Wo wird sie langfristig leben und arbeiten? Mittlerweile ist sie übergangsweise als Austauschlehrerin an der Universität Heidelberg, ihre Familie hat sie seit drei Jahren nicht gesehen. Und in welchem Bereich kann sie in der Zukunft forschen? »Solche Fragen stehen alle offen«, sagt Li Jie.

Daria Ankudinova kann das gut verstehen. Lange Zeit dachte die 38-Jährige, sie werde Professorin. Forschen, lehren, das volle Programm. Ihr Weg in die Wissenschaft begann an der staatlichen Nekrassov-Universität Kostroma in Russland. Sie gab Deutschunterricht für Studierende und schrieb ihre Doktorarbeit nebenbei. »Ich steckte tief im Geschehen. Aber das ist kaum zu schaffen gewesen«, sagt sie über ihre damalige Arbeit. Mit einem Stipendium kam sie für einen Forschungsaufenthalt nach Deutschland und entschied sich, an der Uni Leipzig weiter zu promovieren. Dort lernte sie auch Li Jie kennen. »Gerade, als ich noch am Anfang der Promotion stand, habe ich mich für viele Stellen beworben, in der Verwaltung und als Dozentin, aber viele Absagen bekommen«, so Daria Ankudinova.

Zahlen der Doktorandinnenstudie Nacaps (National Academics Panel Study) besagen, dass achtzig Prozent der Doktorandinnen an einer Hochschule beschäftigt sind, zwanzig Prozent von ihnen verdienen ihr Geld außerhalb. Die Studie zeigt außerdem, dass Doktorandinnen zwar einen hohen persönlichen Gewinn aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit ziehen, nur relativ wenige (22 Prozent, um genau zu sein) geben allerdings an, im Anschluss eine akademische Laufbahn anzustreben. Schlechte Arbeitsbedingungen und hoher Leistungsdruck an Forschungseinrichtungen sind offenbar keine gute Kombination.

Ähnlich war es bei Daria Ankudinova: Schon während ihrer Promotion sei sie zunehmend in die Freiberuflichkeit gewechselt. »Ich habe Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und gemerkt, dass mir eher die praktische Arbeit Spaß macht als Theorie und Forschung. Aber das heißt auch, ich habe mit dem Traum abgeschlossen, dass ich Professorin werde.« Als wissenschaftliche Referentin für den Dachverband der Migrantinnen (DaMigra) setzt sie sich seit vier Jahren für politische Teilhabe und für antirassistischen Feminismus ein und macht Gremienarbeit für Migrantinnenrechte in Deutschland. »Es gibt Ausschlussmechanismen und strukturelle Diskriminierung. Nicht alle haben die gleichen Privilegien«, sagt sie. Auch nicht in der Wissenschaft. Manche Forschende hätten auch aufenthaltsrechtliche Probleme. Hindernisse, mit denen Promovierende aus Deutschland und aus der EU nicht konfrontiert seien. »Das darf auf keinen Fall passieren. Das Aufenthaltsrecht darf sich nicht in wissenschaftliche Belange einmischen.« Einmischung und Unterschiede gibt es aber auch noch auf anderer Seite. So war die Wissenschaft zwar während der Pandemie extrem produktiv (die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte gestiegen), aber nicht alle Forschenden waren an dieser Erfolgskurve gleichermaßen beteiligt: Einer umfassenden Analyse von wissenschaftlichen Magazinen des Verlagshauses Elsevier zufolge ist der Anteil an publizierenden Autorinnen im Gegensatz zu den Autoren während der Pandemie geschrumpft. Angehörige pflegen, sich um Hausarbeit und Kinder kümmern und die zu geringe Beteiligung der Männer an diesen Aufgaben ließen (und lassen) die wissenschaftliche Karriere mancher Frauen auf der Strecke bleiben. Dabei herrschte auch in vorpandemischen Zeiten keineswegs Gleichberechtigung in der Wissenschaft. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen: Etwa die Hälfte des Personals an deutschen Hochschulen ist weiblich, ähnlich sieht es in der Studierendenschaft aus. Selbst unter den Promovierenden liegt der Frauenanteil noch bei 45 Prozent, aber nur ein Viertel der Professuren ist in Deutschland weiblich besetzt. In Sachsen sind es sogar nur 23,3 Prozent. »Es gibt noch viel zu tun, die Lage zu verbessern und Diversität wertzuschätzen«, so Daria Ankudinova.

Geldsorgen, Elternschaft, die ständige Suche nach Anschlussmöglichkeiten machten Wissenschaftler:innen zu schaffen. Wenn Daria Ankudinova an ihre Zukunft denkt, hat sie manchmal Angst: »Eigentlich stehen Menschen in meinem Alter im Leben und haben Familie, wissen, wo sie leben und wohnen, in welcher Stadt und in welchem Land.« Bei ihr stehe dagegen eine Mischung aus »FOMO« und »FOBO« auf dem Programm: Fear of Missing Out versus Fear of Better Options. Um nichts zu verpassen, muss man sich entscheiden – aber was, wenn diese Entscheidung nicht die richtige ist?

Letztens landete eine E-Mail von Li Jie in Daria Ankudinovas Postfach, bei der sie schmunzeln musste: eine Stellenausschreibung aus China. Das könnte sie doch auch mal probieren.

LAURIE STÜHRENBERG, EYCK-MARCUS WENDT


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