Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal lässt Michelle Schreiber 2021 Revue passieren und hinterfragt dabei ihr eigenes Leseverhalten.
Ich packe meinen Koffer, um mit dem Zug über Weihnachten und Neujahr zu meinen Eltern zu fahren, und nehme zu viele Bücher mit. Trage Welten im Gepäck, weil sich die Rückenschmerzen besser aushalten lassen als das Fernweh.
Ich blicke auf das Jahr zurück. 2021 gingen wichtige Literaturpreise an Autoren mit afrikanischen Wurzeln: Literaturnobelpreisträger war der britisch-tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah, der International Booker Prize und der Prix Goncourt wurden an die (franko-)senegalesischen Schriftsteller David Diop und Mohamed Mbougar Sarr verliehen. Als Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels wurde die simbabwische Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga ausgezeichnet.
Vor kurzem spreche ich mit einer senegalesischen Person über Literatur. Ich frage, wie es dazu kam, dass zwei Preise an senegalesische Autoren vergeben worden sind. Im Nachhinein schäme ich mich – wer fragt schon: »Kannst du mir mal erklären, wie es dazu kommt, dass auf einmal ein Schriftsteller aus [west-europäisches Land einfügen] den Nobelpreis gewinnt?«
Die Vormachtstellung und das Anrecht deutscher Literatur auf Auszeichnungen scheinen mir in dem Moment selbstverständlich, die Qualität der senegalesischen Literatur stelle ich mit meinem Eurozentrismus hingegen infrage.
Der Bekannte antwortet: »Die schreiben gut. Die machen das einfach sehr gut.«
Er leiht mir »Les plus secrètes mémoires des hommes« von Mbougar Sarr aus, für das sich der Hanser Verlag die Verwertungsrechte mit einem sechsstelligen Betrag gesichert hat. Ich fange an, das Werk zu lesen, das sich unter anderem um die rassistische Rezeption Schwarzer Schriftsteller im Frankreich der 40er Jahre bis heute dreht. Ich recherchiere ein wenig, um herauszufinden, ob es im Senegal Faktoren gibt, die das Entstehen von Literatur begünstigen. Tatsächlich ist es ein politisch stabiles System mit herausragenden wirtschaftlichen Beziehungen. Dieser Umstand erlaubt es mehr Menschen, sich der Kunst zu widmen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass qualitativ hochwertigere Werke entstehen können. Dennoch gilt es, großartige Literatur aus anderen Ländern nicht zu »entdecken«, sondern ihr vielmehr mit Demut zu begegnen.
In Leipzig wurde 2020 der Akono Verlag gegründet, der zeitgenössische afrikanische Literatur verlegt. Das Ziel: Aufmerksamkeit schaffen. Auf der Webseite des Verlags befindet sich zudem ein Online-Magazin, in dem Besprechungen zu Büchern, Filmen, Fotografie und Musik erscheinen.
In meinem Koffer befindet sich ein kleiner ungelesener Stapel Bücher für das neue Jahr. Darunter zwei Romane afrikanischer Frauen, die mittlerweile in den USA leben: »Americanah« der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozie Adichie und »Wie schön wir waren« von Imbolo Mbue, die im Kamerun aufwuchs. Außerdem »La Porte du Voyage sans retour« des franko-senegalesischen Schrifstellers David Diop, das im April unter dem Titel »Reise ohne Wiederkehr« im Aufbau Verlag veröffentlicht wird. Ich kann nicht umhin, den biographischen Bezug zum Westen zu bemerken, das Leben in Städten wie Paris oder New York, das diesen Titeln indirekt vielleicht auch erst ermöglicht, in größerem Maße in Deutschland rezipiert zu werden.
Das Lesen von Literatur erlaubt das Lernen über persönliche Schicksale und verschiedene Kulturen, das Ausdifferenzieren der eigenen Gedanken sowie der Entwicklung von Empathie und Verständnis. Im Zug zurück nach Leipzig schlage ich »Wie schön wir waren« von Mbue auf und beginne eine Reise zwischen zwei Kontinenten.