Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal liest Redakteurin Martina Lisa »Wie ich das chinesische Lager überlebt habe. Der erste Bericht einer Uigurin« von Gulbahar Haitiwaji – eine erschütternde Geschichte über Willkür, Misshandlung und Folter aus dem heutigen China.
»In Xinjiang ist die Wahrheit nicht zu hören. Wer im Lager war, weiß es.«
Gulbahar Haitiwaji ist Uigurin aus Xinjiang. Zehn Jahre lang lebt sie mit ihrer Familie im französischen Exil, bis die chinesischen Behörden sie 2016 unter einem administrativen Vorwand nach China locken. Sie hat Zweifel, fährt dennoch hin – und wird verhaftet.
Als Terroristin beschimpft, da ihre Tochter in Paris an einer Protestveranstaltung teilnahm, landet sie für zweieinhalb Jahre in Gefängnissen, Umerziehungslagern und schließlich in einer Wohnung unter ständiger Beobachtung der Geheimpolizei. Sie überlebt. Psychisch und physisch zerrüttet und nur dank des unnachgiebigen Engagements ihrer Tochter in Frankreich. Sie darf zurück, doch die kleine Diaspora, die Freunde sind skeptisch: Wie konnte sie entkommen? Ist sie womöglich eine Spionin? Viele Kontakte brechen ab, und sie entschließt sich zuletzt, zusammen mit der Journalistin Rozenn Morgat das Unerzählbare in Worte zu fassen – wohl wissend um die Gefahr, die dies für sie, aber vor allem für ihre Familie und Freunde in China bedeutet.
Als Jugendliche las ich Solschenizyns' Iwan Denissowitsch und mein Magen hat tagelang das Essen verweigert, da versuchte ich mich noch mit der Vergangenheit zu trösten. In Wirklichkeit ist es aber eine Fortschreibung, an anderen Orten, zu anderen Zeiten, mit neuen Methoden. So trägt auch das Buch im französischen Original den Gulag im Titel. Es ist eine erschütternde Lektüre – über den Strudel der Macht, über eins zur perfiden Perfektion entwickeltes System, aus dem kein Entkommen ist. Punkt. Hiatiwatis Bericht ist ein Akt der Selbstermächtigung, ein Appell an die westliche Welt, und der Genozid der passende Begriff für die Situation in Xinjiang. Rozenn Morgat vermag es, Haitiwajis Stimme aus dem Text sprechen zu lassen, ihn aber gleichzeitig auch journalistisch-faktisch zu untermauern. Angesichts der gerade zu Ende gegangenen Olympischen Spiele wirft das Buch noch einmal die Frage nach dem Wert von Menschenrechten und Menschenleben im globalen Kontext auf. Was sind wir alles bereit in Kauf zu nehmen und wofür?
Gulbahar Haitiwaji/Rozenn Morgat: Wie ich das chinesische Lager überlebt habe. Der erste Bericht einer Uigurin. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Uta Rüenauver. Berlin: Aufbau Verlag 2022, 259 S., 20 €