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Kultur

Das Gegenteil von Krieg

Unser Autor geht gegen die Angst ins Gewandhaus

  Das Gegenteil von Krieg | Unser Autor geht gegen die Angst ins Gewandhaus

Ein Jahr russischer Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir hier müssen glücklicherweise nicht vor Waffen fliehen, aber da sind die immer neuen immer gleichen Bilder und Geschichten auf unseren Displays und Bildschirmen, und da sind die Bilder und Ängste in unseren Köpfen. Gegen die unser Autor im Gewandhaus vorgeht.

Allegro

Ich wollte was gegen den Krieg tun. Gegen den Krieg in meinem Kopf. Jeden Morgen zum Frühstück n-tv.de, understandingwar.org. Ich dachte: Wenn schon tot, dann vorher noch viel gute Musik. Gewandhaus. Grosse Concerte. Das wär’s doch. Es sei ja viel frei, hieß es. Wenig Publikum »nach Corona«, Inflation, explodierende Heizkosten.

Ein erstes Konzert schon am 2. März 2022, ein Soloabend. Grigory Sokolov spielt Beethoven, Brahms, Schumann. Und eine Frage: Der russische Pianist, 1950 in Leningrad geboren, in derselben Stadt wie zwei Jahre später Putin, würde er den Kriegsbeginn irgendwie thematisieren? – In Erinnerung bleibt ein alter Mann, der bezaubernd spielt. Auch Zugaben. Die ukrainische Hymne war nicht dabei. Ich verstand es nicht. Später kamen andere Gelegenheiten: die Pianistin Anna Vinnitskaya, der Dirigent Dmitri Jurowski, der Pianist Igor Levit – alle in der Sowjetunion geboren, alle kein Kommentar. Nur ihre Musik.

Müssen russische Solistinnen und Solisten Stellung beziehen, wenn es um Russland geht? Gibt es nationale Sippenhaft? – Musik ist wohl per se Kommentar, ist Utopie und Harmonie, trägt uns dorthin. In drei Phasen: Was zunächst – leicht zu entschlüsseln – zwitschert, marschiert, sich aufbläst, also Effekt macht, wird in Phase zwei fast gleichzeitig schon in emotionale Bilder übersetzt, ist dann ganz eigene Filmmusik, die uns wogt und treibt wie beim Blick von der Kaimauer: Tang, eine Feder, eine Plasteflasche, ein Stück Holz. Im Idealfall schwimmt alles zusammen: Wasser und Land; Musizierende mit ihrem Instrument; Orchester und Publikum; Saal und Zeit. Das ist  d e r  Moment – Phase drei –, in dem uns die Bilder wieder verlassen: Dann ist Harmonie, tiefer Frieden, das Gegenteil von Krieg.

Spätestens im Herbst dachte ich, es wird richtig ernst. Selenskyj beantragt die schnelle Aufnahme in die NATO, weil Putin die Ostukraine zum neuen Staatsgebiet erklärt. So macht er sich selbst das größte Geschenk, ignoriert Recht und Ordnung, geht über Leichen, ein paar Tage vor dem 7. Oktober, seinem runden Geburtstag. Die letzten Tage der Menschheit.

Saisonbeginn im Gewandhaus. In Schumanns weltlichem Oratorium geht es an jenem 7. Oktober um die Frage, wie die Peri, eine Fee, ins Paradies kommt. Der Schlüssel dazu ist weder der letzte Blutstropfen eines Freiheitskämpfers, der stirbt, weil er den Tyrannen morden wollte, noch der letzte Kuss einer großen Liebe, sondern die Träne des Verbrechers, der beim Anblick eines betenden Knaben Reue zeigt, weil der ihn an die eigene kindliche Unschuld erinnert. Wird Putin weinen?

Scherzo

Nach diesem Oratorium bin ich mir sicher und kaufe eine »Orchestercard«. Meine kostet 30 Euro pro Saison und bringt 20 Prozent Nachlass auf alle Tickets. Die 6-Euro-Karte oben auf der Orgelempore kostet also nur 4,80 Euro, Straßenbahn inklusive. Beim Fahrpreis von 3 Euro pro Fahrt ist das Konzert mehr als kostenlos, die Heizung zu Hause kann zudem aus bleiben, und – alter Trick aus Studententagen – wenn das Konzert nicht ausverkauft ist, kann man sich unauffällig woanders hinsetzen.

Aber wo? Wo gucken, wo hören? Bruckner am besten im Rang ganz hinten. Denn Bruckner ist sehr, sehr laut. Orchester und Hall überlagern sich unschön, wenn man nicht oben an der Wand sitzt. Orgelempore ist wiederum gut für Herbert Blomstedt, den 95-jährigen Ehrendirigenten, dem man von hier aus direkt ins Gesicht schauen und zusehen kann, wie er die Musik mit großen, knochigen Händen hin und her schaufelt. Daniele Gatti gibt sich besonders engagiert: Sein Dirigat reicht bewegungstechnisch für zwei oder drei. Schön die Momente, wenn Dirigentinnen und Dirigenten loslassen können und das Orchester ohne Zutun wie von Zauberhand, mit Autopilot fliegt.

Andante

Pause. In den Foyers Bilder und Plastiken. Seit Eröffnung ist das Haus ein Gesamtkunstwerk. Auch Zeitkapsel. Alle Bilder sind Leipziger Schule, datiert auf 81, fast eine Sonderausstellung. Bei den Büsten zähle ich neun Komponisten und fünf Gewandhauskapellmeister. Die Heiligsten stehen an den dicksten Säulen: links Brahms und Beethoven; rechts nur Bruckner. Für wen wird der zweite Platz hier freigehalten? Auch mal eine Frau? Clara Schumann? Die hatte 2019 Jubiläumsjahr. Bleibt das Patriarchat in Stein gemeißelt?

Und soll man das anpassen an unsere Zeit? Es gibt ja neue Auftragswerke für das Orchester. Braucht es auch welche für die Wände im Foyer, wo Frauen dann mehr als barbusige Musen oder Salome sein dürfen? Und aus der Ecke kommen. Dort steht eine Büste, die Elena Gerhardt zeigt. Die berühmte Sängerin stammt aus Connewitz. Zum 150. Geburtstag könnte man sie 2033 ins Zentrum rücken. Früher wäre schöner.

Animato

Wenn schon kein Frieden in der Ukraine ist, dann in den »Grossen Concerten«: »Alle Menschen werden Brüder«, heißt es in der 9. Symphonie von Beethoven. Nikisch hat sie Silvester 1918 dirigiert – ein »Friedenskonzert« im Auftrag des Arbeiterbildungsvereins. Seitdem ist das Tradition. Und Appell. Am 8. Oktober 81 dirigiert Kurt Masur im Eröffnungskonzert des Neuen Gewandhauses auch die 9. Symphonie. Zwei Tage später erlebt die BRD die legendäre Hofgartendemo in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss. Er beinhaltet die Option, dass die NATO im Angriffsfall auch Atombomben einsetzen könnte. Das hatte dann Abrüstungsvereinbarungen mit der Sowjetunion zur Folge. Wäre Härte gegenüber Russland also auch diesmal richtig? Wo finge die an, wo hörte sie auf? Darf man russische Komponistinnen und Komponisten wie Rachmaninoff oder Schostakowitsch noch spielen? Das alte Europa ging bis zum Ural. Das neue nur noch bis zum Dnepr?

Ich finde, man muss diese fantastisch gute russische Musik weiter spielen. Auch als Zugabe. Dmitri Jurowski wählt einen Tango von Schostakowitsch. Er hatte Ende Oktober bei der Witwe angerufen und zum Geburtstag gratuliert. Der sei einen Monat später – also bitte noch mal anklingeln. Und sie fügte hinzu: Bitte auch vergessene Werke spielen. So kommt der Tango aus den dreißiger Jahren am 17. November zu seiner zweiten Uraufführung. Ungehörte Musik ist wirklich unerhört spannend! Der Krieg in meinem Kopf geht natürlich weiter: n-tv.de, understandingwar.org. Aber irgendwie auch understandinggewandhausorchester.de. Das hilft.

STEFAN PETRASCHEWSKY


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