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Kultur

Ist Literatur in Krisenzeiten obsolet?

Über das Schreiben und Lesen in Krisenzeiten

  Ist Literatur in Krisenzeiten obsolet? | Über das Schreiben und Lesen in Krisenzeiten

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal fragt sich Michelle Schreiber, ob Literatur in Krisenzeiten obsolet ist.

Was mich wie so viele im vergangenen Monat beschäftigt hat: der 19. Februar in Hanau sowie der Angriff Russlands auf die Ukraine. Seit zwei Jahren ist der 19. Februar kein normales Datum mehr, vergangenen Monat erwartete ich, überall Hanau zu lesen, auf den Titelseiten der Zeitungen, als ersten Beitrag der Tagesschau – needless to say, dass etwas in mir zerbrach, wenn dies nicht der Fall war. Die Farbkombination blau-gelb besitzt seit einigen Tagen eine neue Bedeutung, überall sehe ich sie, denke nun anders über Europa-Flaggen oder Firmenlogos oder Outfits von Fremden nach, die ich zufällig im Alltag sehe. Ich weiß, ich muss darüber in der nächsten Kolumne schreiben, über Hanau und den Krieg, und gleichzeitig verzweifle ich daran, wie lächerlich unbedeutend Literatur angesichts rechten Terrors, angesichts eines Krieges wirkt. Denn mit Literatur lassen sich keine rechten Morde verhindern, lässt sich kein Frieden etablieren. Während ich schreibe, zweifele ich, frage mich: Ist Literatur in Krisenzeiten obsolet?

Literatur kann zweifellos als Luxusgut verstanden werden. Die Tätigkeit des Lesens setzt voraus, dass Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst sowie ein Mindestmaß an Sicherheit und Gesundheit gedeckt sind.

Dennoch muss ich an dieses Zitat von Philippe Dijan denken: »Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.« Ich beobachte wie in meiner Instagram-Bubble in den vergangenen Tagen vermehrt Literaturempfehlungen zu ukrainischen Autorinnen geteilt werden. Von Userinnen, die nach einem Buch greifen, um nach Trost zu suchen und Verständnis zu entwickeln.

Gleichzeitig ist auch das Schreiben in Krisenzeiten für Schriftstellerinnen und Journalistinnen existenziell. Notwendig für den Selbstausdruck, für die Verarbeitung des Geschehenen, für die Bewahrung der eigenen Würde. Das beweist das Projekt weiterschreiben.jetzt, in dem drei deutsche Autorinnen mit afghanischen Autorinnen im literarischen Briefwechsel stehen. Zum Beispiel Marica Bodrožić und die afghanische Schriftstellerin Batool, die im Taxi auf der Flucht, drei Tage nach der Machtergreifung der Taliban, den Brief von Bodrozic liest, daran festhält, schreibt. Das beweist die ukrainische Journalistin Anastasia Magazowa, die auf der Krim aufwuchs und seit zweieinhalb Jahren Politikwissenschaft in Berlin studiert. Die nach Kriegsbeginn nicht stillsitzen konnte, zwei Tage später in die Ukraine einreiste und seitdem täglich für die taz aus Kiew berichtet. Das zeigt auch der Schreibworkshop »Erinnern durchs Schreiben«, den die junge Lyrikerin Melis Ntente Ende Februar in Frankfurt am Main leitete. Tränen seien beim Vorlesen und Zuhören geflossen, es sei tröstlich gewesen, die Ereignisse rund um den 19. Februar in Hanau mit anderen Schreibenden gemeinsam literarisch zu verarbeiten.

Ich fühle mich die Tage zu erschöpft, zu eingeschüchtert von Demonstrationen. Ich spende so gut es geht, ich schreibe an der Kolumne, ich lese. Ich beginne mit Sasha Marianna Salzmanns »Im Menschen muss alles herrlich sein« und mit Serhij Zhadans Gedichtband »Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg«. Ich lese und fühle mich auf seltsame Weise getröstet von den Worten der Schriftstellerin und Journalistin Lena Gorelik, schmerze bei Sasha Marianna Salzmanns Beitrag in der NZZ. Aber auch ich möchte in den nächsten Tagen auf die Straße gehen, mich ganz klein und als Teil der Menge ein wenig groß fühlen.

Das Lesen und das Schreiben im Kontext von Krisen versprechen Trost, die Möglichkeit zum Lernen und auch das Bewahren der eigenen Würde.

Ob wir Literatur in Krisenzeiten brauchen?
Die Antwort lautet ohne Zweifel: Ja, wir brauchen sie – gerade jetzt!

 

Hilfsangebote in Leipzig

Spendenmöglichkeiten

Unterstützung für Journalistinnen in der Ukraine vom Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung

Spendenaktion für Journalistinnen in der Ukraine
KATAPULT-Magazin
DE90 1505 0500 0102 0925 08
BIC: NOLADE21GRW
Betreff: Ukraine

PEN Zentrum Deutschland zur Unterstützung ukrainischer Autorinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen, Kulturaktivistinnen
Spendenkonto: Sparkasse Darmstadt, IBAN: DE 03 5085 0150 0000 7301 14, Verwendungszweck: Ukraine

 

Literaturempfehlungen
Das Börsenblatt veröffentlichte hier eine kommentierte Liste mit Lektüreempfehlungen aus und über die Ukraine.

Auch im Rahmen der Solidaritätsveranstaltungen, den Lesungen im Gorki-Theater und im Thalia-Theater, lassen sich viele weitere Empfehlungen zu namhaften ukrainischen Schriftstellerinnen rfinden.


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