Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.
Frauen als Ware, Menschen als Störung
Ralph Grünebergers neuer Leipzig-Roman – ein erzählerisches Kaleidoskop
1978 verlässt Lisas Vater die Familie. Mutter Katrin und Lisa haben es gut, auch mit der Unterstützung von Nicht-Oma Inge und Opa Hort. Im Sommer 1991 wird diese eingespielte Haushaltsharmonie gestört, während auf dem nahegelegenen Straßenstrich noch »[d]ie neue Freiheit […] für jedermann sichtbar« regiert. Die Wohnwagenprostitution stößt zunehmend auf Missfallen der AnwohnerInnen und des Schulumfeldes. Im gleichen Jahr, im Dezember, bekommt Lisa eine Liste auf dem Schulhof zugesteckt. Dort sind anonym Namen von Schülerinnen mit Bewertung ihrer sexuellen Anziehung vermerkt. Die Schulredaktion, von der Lisa ein Teil ist, wehrt sich. Die Schule verhindert den öffentlichen Eklat. In der Zeit danach schreibt Lisa unzählige Briefanfänge an ihren abwesenden Vater, während die Mutter mit Kündigungsankündigungen für Arbeit und Wohnung ringt. Ein erster Brief wird abgeschickt, als Lisa während ihrer Belegarbeitsrecherchen zu Prostitution auf ihren Vater stößt. Durch ein Interview mit einer Domina zettelt Lisa Ärger an. Bevor es am Ende zu einer beklemmenden Bereinigung der Umgebung kommt, holen Lisa Vergangenheit und Gegenwart, auch in Köln, ein.
Erzählerisch variiert der Text zwischen verschiedenen Perspektiven, zwischen Bericht, Fakten- und Quellendarstellungen, längeren Monologen und szenischen Dialogen. Die detaillierten, sehr besonderen historischen Informationen überzeugen. Eine tiefe Nähe zu den Figuren stellt sich nicht ein, die historischen Fakten bleiben näher als das figurale Erleben.
SUSE SCHRÖDER
Ralph Grüneberger: Lisa, siebzehn, alleinerzogen. Meßkirch: Gmeiner 2022. 250 S., 12 €
Auserzähltes Leben
Anselm Nefts neuer Roman therapiert »Späte Kinder«
Die Diagnose Krebs im Endstadium kündigt bereits auf den ersten Seiten an, dass in »Späte Kinder« die Zwillinge Sophia und Thomas voneinander Abschied zu nehmen haben. Sophia bleibt noch ein knappes halbes Jahr, um ihrer Tochter Julika ein brauchbares Erziehungsverhältnis zu hinterlassen, den Hausrat und das Erbe der verstorbenen Eltern zu verteilen und sich auf den eigenen Tod vorzubereiten. In ihrem Bruder Thomas und seiner Freundin Katrin sieht sie die idealen Ersatzeltern. Doch sie weiß nicht, dass die beiden sich jüngst getrennt haben und Thomas mit der deutlich jüngeren Rabea anbändelt. Im Haus der Eltern kommt es zu einem Wiedersehen mit Thomas. Gemeinsam graben sie in der Vergangenheit, um ihre Gegenwart zu verstehen und die Weichen für die Zukunft zu stellen.
Anselm Nefts fünfter Roman wirkt wie ein Neuaufguss von ihm bereits verwerteter Kunstgriffe: Wieder spielt ein großer Teil in seiner Heimatstadt Bonn, wieder ist ein Thomas eine Hauptfigur, wieder ist eine schwere Krankheit das erregende Moment der Erzählung. Wieder hat Edgar Allan Poes Prosa eine Kindheitsspur geprägt, wieder gibt es Philosophieexkurse und wieder ist es auf der paternalen Figurenebene besonders kalt. Dennoch weiß der Satiriker und Publizist erneut mit dem Austarieren moralischer Grenzen zu fesseln, ohne dabei den Zeigefinger zu erheben. Die flachen Nebenfiguren und ermüdenden Nazivergangenheitsexegesen leiten allerlei Erhellendes über Identitätspolitik, Traumadiskurs und Erinnerungskultur her. Wo Neft eingangs mit dem Kammerspiel im Elternhaus stark auf die Bremse tritt, erhöht er in den letzten beiden Teilen des Romans deutlich das Erzähltempo. Am abrupten Ende des Buches steht fest, worin für »Späte Kinder« von heute eine Therapie besonders anzuraten wäre: im Zuhören, Einfühlen und Verstehen.
MARCEL HARTWIG
Anselm Neft: Späte Kinder. Hamburg: Rowohlt Hundert Augen 2022. 288 S., 22 €
Vom Lebenssinn der Drohne
»Öl und Bienen« erzählt von der Bedeutung von Mythen
Edwin ist selbsternannter Heimatchronist. Abends sitzt er in »Schröders Wirtsstube« in Nauen und erzählt eine unglaubliche Geschichte, die auch seine ist. Eine mythenreiche Geschichte, die in einem verlassenen Örtchen namens Beutenberge spielt. Doch Mythen sind hartnäckig – und ein roter Faden in diesem skurrilen DDR-Roman.
Die Männer der Familie Wutzner haben ihr Leben der Erdölsuche verschrieben. Mehr als einmal spüren sie das ersehnte Vibrieren unter ihren Füßen, doch sobald sie das schwarze Gold ausgraben wollen, versiegt es verlässlich. Aufgrund der Verheißung wurde die Siedlung Beutenberge überhaupt errichtet. Lothar Ihm, der Ihmsche genannt, und letzter Wutzner-Sprößling, ist immer noch dort. Er sitzt die DDR-Tristesse im Niemandsland aus und pflegt gemeinsam mit seinen Freunden Blutbeule und Krücke ein lethargisches Dasein zwischen Biereskapaden und Fachsimpelei über die neuen Platten aus dem Westen. Nur die plötzlich auftauchenden Bienenschwärme stören. Als dann noch ein Todesfall eintritt, eine Horde heiratswilliger Frauen im Ort anrückt und eine Lederriesin aus seiner verdrängten Vergangenheit ins Leben des Ihmschen stürzt, ist es vorbei mit der Ruhe.
Torsten Schulz hat einen wunderbar schrägen Roman mit überraschenden Pointen geschrieben, der schleppend beginnt, doch zunehmend Fahrt aufnimmt. Genau wie sein Protagonist schüttelt er die Lethargie mit fortschreitender Handlung ab und richtet den Fokus auf die Absurdität des zwischenmenschlichen Daseins. »Öl und Bienen« erzählt von unfreiwilligen Gemeinschaften, von der Zufälligkeit eines Lebenswegs und davon, dass nichts bleibt, wie es ist. Nicht mal in einem gottverlassenen Kaff wie Beutenberge.
SARAH NÄGELE
Torsten Schulz: Öl und Bienen. Stuttgart: Klett-Cotta 2022. 224 S., 22 €