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Kultur

Buchmesse-Special #2

Lese-Tipps aus der Literaturredaktion

  Buchmesse-Special #2 | Lese-Tipps aus der Literaturredaktion

Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.

Leben in Aquarell oder Die Flügel des Wahnsinns

Tove Ditlevsens Roman »Gesichter«

Der Inhalt ist schnell erzählt: Im Kopenhagen der 1970er begegnen wir Lise Mundus – 40, Autorin eines Erfolgsromans, in zweiter Ehe mit Gert und Mutter dreier Kinder. Diese leben zusammen mit Haushälterin Gitte, die sich überfürsorglich um Haus und Hof kümmert. In sechzehn Kapiteln erzählt Ditlevsen vom fortschreitenden Verlauf einer seelischen Erkrankung.

Im Wirrwarr ihres Alltags verirrt, verliert Mundus ihr Gesicht. Die toxische Beziehung zu Gert führt so weit, dass sie glaubt, ihr Mann habe eine sexuelle Beziehung zu Tochter Hanne. Ist es die Angst als Schriftstellerin und Mutter zu versagen oder sind es die inneren Konflikte mit sich selbst? Die emotionale Ausweglosigkeit führt Ditlevsens Protagonistin zum Suizidversuch. Dahinter verbirgt sich weniger eine Tötungsabsicht als der Wunsch, der Gesamtsituation zu entfliehen und in die Obhut einer psychiatrischen Klinik mit Fachpersonal zu gelangen.

Dort aber beginnt der fortschreitende Albtraum. Die von ihr erhoffte Ruhe und Genesung stellen sich nicht ein. Mundus hört Stimmen aus Abflussrohren, die Gesichter ihres Gegenübers verschwimmen; Gert, Gitte, Hanne tauchen in Gestalt von Schwestern, Pflegern, Mitpatientinnen auf. Durch ein vermeintliches Mikrofon im Kissen verwickeln sie sie in neue Konflikte und Verschwörungstheorien.

Liest sich der sehr poetische Roman aufgrund seines Reichtums an Metaphern und Vergleichen anfangs etwas holprig, verdichtet sich die Geschichte im Lektüreverlauf. Die wirklich großartige Übersetzung von Ursel Allenstein setzt Maßstäbe in der Beschreibung des psychotischen Geschehens. Wer selbst betroffen war oder Angehörige hat, die seelisch erkrankt sind, weiß, wie schwer es ist, das innere Erleben, die Zustände zu beschreiben, in denen sich der Erkrankte befindet.

Am Ende stellt sich Mundus die Frage, inwiefern der Wahn eben doch Sinn verleiht und wie gut es sein kann, an einem Ort zu leben, der nichts von einem verlangt als zu sein. Keine leichte Kost, aber absolut empfehlenswerte, anspruchsvolle Lektüre, die zum Nachdenken anregt. 

STEPHANIE WAGNER

Tove Ditlevsen: Gesichter. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Berlin: Aufbau 2022.160 S., 20 €

 

Einen finden zu wollen, heißt einen erfinden


Marie Malcovatis zweiter Roman verdichtet das zwischen den Alltagen Verborgene

»Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut« ist ein leises, nachhallendes Buch, in dem sich die Vergangenheiten in einem gemeinsamen Jetzt verweben. Prolog und Epilog gehören dem Liebhaber und Vater Tahov sowie dem Sohn Samu, das Gesamtgeschehen Tahovs Frauen und ihren Leben. Der Roman beginnt in Süddeutschland, wo sich Tahovs obdachlose, hochschwangere Tochter Iona, seine letzte Liebhaberin Tine samt Adoptivkind Clara und Karolin, eine weitere Episodenfrau mit einem traurigen Geheimnis, begegnen. Das weibliche Personal stellt sich der Schwere, die das Leben ihnen abfordert: Alkoholismus, depressive Episoden, Unfälle mit tödlichen Folgen, Geheimnisse, die gelüftet werden und erst Jahrzehnte später schmerzen. Malcovati bleibt sehr nah an den Figuren, erzählt das Leben von Iona, Tine mit Clara und Karolin auf Augenhöhe, ohne sie vorzuführen. Selbst beim Ausnüchtern, Übergeben, Stolpern und Stürzen überzeugt sie mit dichter, präziser Sprache, die mit lyrischen Bildern durchzogen ist. Figurennähe und empathisches Verstehen von Entscheidungen und Alter(n) sind in jeder Episode gegenwärtig. Gemeinsam brechen die drei Frauen auf, um Tahov in den finnischen Wäldern zu suchen, sie stoßen sich mehr voneinander ab, als dass sie sich einander annähern, sind dabei stark und mutig, häufig wütend – und das steht ihnen. Auch widrige Umstände machen sie sich zu eigen. Und so finden sie, über Auszüge aus einer Berliner und einer Londoner Vergangenheit erzählend, in Rovaniemi fast das, was sie suchen, ehe sie wieder nach Süddeutschland zurückkehren, in gefestigter, überraschender Konstellation.

SUSE SCHRÖDER

Marie Malcovati: Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut. Hamburg: Edition Nautilus 2022. 220 S., 22 €

 

Wer die Rose ehrt

Andrea Tompas meisterhafter Roman aus der ungarischen Provinz

Der Staatssozialismus inszenierte sich gern als futuristische Industriegesellschaft, während doch der wirkliche Alltag im Ostblock zu weiten Teilen eher ländlich und von ökonomischer Rückständigkeit (Alexander Gerschenkron) geprägt war. Andrea Tompas dritter Roman fängt mit viel Verve und Witz das abgelegene Leben einer ungarischen Provinz in der Nachkriegszeit ein, in dem traditionelle Vorstellungen und dörfliche Lebenslagen mit der brutalen Realität des stalinistischen Industrialisierungswahns kollidieren. Rashomon-artig entfaltet sich aus der Binneperspektive von vier Figuren der Mikrokosmos um den kauzigen Rosenzüchter Vilmos, dessen ganzes Leben sich nur um seine Gewächse dreht, um neue Kreuzungen, die kontinuierliche Verbesserung von Bedingungen und die Erweiterung der Zucht. Vilmos, der sich autodidaktisch Wissen und Fähigkeiten aneignet, macht eher zufällig Karriere im Arbeiter- und Bauernstaat und kann seinen Garten zu einem agratechnischnischen Forschungslabor ausbauen. »Ich bekomme noch einige frische Broschüren mit auf den Weg, die die Universität drucken lässt, besonders über die Mitschurinsche und Lyssenkosche Methodik, und die Ergebnisse der sowjetischen Landwirtschaft.« Seine Haushaltshilfe Kali hält das chaotische Leben zusammen, eine gewitzte Bäuerin, die nicht davon abzubringen ist, Vilmos, der nachts zu ihr ins Bett gekrochen kommt, als Herrn zu bezeichnen. Heimlich doch mit großer Leidenschaft verliebt sich die junge Annuska in den Rosenzüchter, während ihre Schwester Eleonora, eine Nonne, ins Räderwerk des Terrors kommt. Die Vielfältigkeit von Perspektiven, individuellen Charakteren und erzählerischen Stimmen zeichnen die Meisterschaft des tragikomischen Romans aus, der trotz seiner Länge äußerst kurzweilig zu lesen ist.

THORSTEN BÜRGERMANN

Andrea Tompa: Omertà. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin: Suhrkamp 2022. 950 S., 34 €


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