Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal liest Redakteurin Martina Lisa »Ein neuer, ein ganz anderer Ort« von Koschka Linkerhand – eine als Abenteuerroman verkleidete Geschichte einer puritanischen Pfarrersfrau, die einst Pirat gewesen war.
Irgendwann im 18. Jahrhundert, irgendwo in den Appalachen in einer puritanischen Missionsgemeidne gehen »Die Irrfahrten der Anne Bonnie« (Querverlag, 2018), der einzigen Überlebenden der Seeräubermannschaft, weiter. Sie legt ihre Männerkleidung ab, zieht Kleider und Mieder an und findet sich als Anne Burleigh, Pfarrersfrau und Mutter, in einer ganz anderen Rolle wieder. Mitten im Nirgendwo, hoch in den Bergen von North Carolina passt sie sich an ein neues Wir an. Doch ihr Ich, ihre Geschichten, die sie in imaginären Truhen bewahrt, lassen sie nicht los. Koschka Linkerhands zweiter Roman knüpft durch die Hauptfigur auf den ersten an, steht aber für sich, man muss die »Irrfahrten« nicht vorher gelesen haben, aber wenn man es noch nicht getan hat, wird man es spätestens nach dieser Lektüre tun wollen.
Als ein historischer Abenteuerroman verkleidet – so wie die Hauptfigur durch ihre Kleider in unterschiedliche Rollen schlüpft – erzählt das Buch eine zeitlose Geschichte von der Suche nach einem Ort, an dem der Mensch so sein kann, wie er ist. »Ich möchte nicht in einer Welt leben, sagte sie – wo man so mit Frauen umgeht oder überhaupt mit Menschen«, sagt eine der Hauptprotagonistinnen mitten im Buch. Und darum geht es. Um die Suche nach einem solchen Ort, »wo nicht tausend Augenpaare auf uns ruhten, wo Menschen zusammenlebten, einander gernhatten und halfen, ohne sich immerzu auf die Finger zu schauen.« So ist der historische Stoff gleichzeitig ein endloses Streben hin zu einer Utopie. Dafür eignet sich die Szenerie der Neuen Welt natürlich hervorragend. Und es ist auch eine Selbstermächtigungsgeschichte, durch die Macht der Schrift und des Wortes – aus denen sich nicht nur unser Wissen und Weltbild speisen, sondern auch wir selbst. Wenn niemand von unseren Geschichten und unseren Namen weiß, gibt es uns nicht. Ähnlich wie die Bücher von Angela Steidele (an deren Protagonistinnen die Rezensentin immer wieder denken musste) rüttelt die unglaubliche Geschichte der Anne Bonnie an gewohnten Klischees, Bildern und der Geschlechterbinarität, und überzeugt dabei sprachlich wie stilistisch. Eine herrliche Lektüre, bei der einer manchmal der Atem stockt und manchmal Lachtränen kommen, das Buch will man trotz später Stunde und geröteter Augen nicht aus der Hand legen.
Koschka Linkerhand: Ein neuer, ein ganz anderer Ort. Berlin: Querverlag 2021. 384 S., 18 €