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Stadtleben

»Wahrheit war immer umstritten, ist es und wird es bleiben«

Scheidender Unibibliotheks-Leiter über die Bibliothek als Wissensmaschine und Ort der Streitkultur

  »Wahrheit war immer umstritten, ist es und wird es bleiben« | Scheidender Unibibliotheks-Leiter über die Bibliothek als Wissensmaschine und Ort der Streitkultur

Seit 2006 ist Ulrich Johannes Schneider Leiter der Universitätsbibliothek Leipzig. Er hat unter anderem die Digitalisierung der Bibliotheksbestände ausgebaut. Jetzt geht er in Pension. Schneider hinterlässt eine nahbare Lern-, Lese- und Arbeitskultur für Studierende, die zum Streiten und Nachdenken einlädt. Mit dem kreuzer hat er im Oktober für die Sonderausgabe u:boot über die Veränderungen während der Pandemie, Kontroversen in der Philosophie und einen Ausblick auf seine eigene Zukunft gesprochen.

u:boot: Was waren für Sie bisher Höhen und Tiefen in der Pandemie?

Ulrich Johannes Schneider: Es gab eine Zeit des Schocks und der Schließung, das war relativ am Anfang im Frühjahr 2020. Seit letztem Herbst sind wir wieder einigermaßen offen für den Betrieb. Die Lesebereiche sind allerdings immer noch nicht uneingeschränkt geöffnet. Entscheidungsfindung ist in der ganzen Pandemie nirgendwo leicht, das konnte man beobachten. Es gehen die Kriterien durcheinander, es gehen die Rücksichten durcheinander. Das haben wir als eine tiefe Verunsicherung erlebt.

Andererseits hatte die UB Leipzig laut einer Statistik den höchsten Besuch und den höchsten Ausleihverkehr von allen deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken in der Pandemie. Das ist schon mal ein schönes Zeichen. Ich schaue auch ein bisschen links und rechts, was in anderen Bibliotheken abläuft, und da scheint es hier in Leipzig immer noch sehr gut zu sein. Die Leute mögen es offensichtlich, hier zu arbeiten, auch wenn es leider nicht das gute alte Bibliotheksfeeling ist.

Hat die forcierte Digitalisierung Schwierigkeiten bereitet?

Die Bibliothekseinschränkungen bringen den ganzen Lebensrhythmus eines studierenden Menschen durcheinander, genau wie für die Forschenden und erst recht für die Lehrenden. Es ist für mich eine erstaunlich eindeutige Lehre aus der Pandemie: Alle Online-Konferenzen und alle digitalen Formate sind wirklich nur Hilfsmittel. Alles, was an Spannungen und an wechselseitigen Erwartungen zur Geltung kommt, wenn sich Menschen im selben Raum befinden, fällt da weg. Früher hat man das mal den pädagogischen Eros genannt. Wenn es sozusagen knisterte. Vor dem Bildschirm knistert es kein bisschen, höchstens akustisch, wenn irgendwas nicht funktioniert. Für rein sachliche Anliegen mögen Videokonferenzen eine praktische Alternative sein. Aber für alles das, was man eine Lernsituation nennt, wo Menschen zusammenkommen wollen und sich auf ein Thema und aufeinander konzentrieren, werden technologischen Hilfsmittel zu Barrieren.

Gibt es diesen pädagogischen Eros auch zwischen Forscherinnen beziehungsweis Studierenden und Büchern? Ist es wichtig, vor einem Buch zu sitzen statt vor einem Bildschirm?

In der Bibliothek sitzen die wenigsten direkt vor einem Buch, aber die meisten sitzen direkt vor irgendeinem Text. Das kann auch etwas sein, was Sie auf einem Laptop haben. Wichtig ist nur die Spannung, die man zum Material aufbaut. Dazu die Spannung, die in dem Raum liegt, in dem alle in einer vergleichbaren Situation sitzen. Am Ende des Tages muss etwas geschrieben, notiert oder kapiert worden sein. Es wird gemeinsam eine einsame Arbeit verrichtet. Ich suche schon lange nach einem Buch, das diesen paradoxen Effekt beschreibt. Der Lesesaal ist auch mit der Digitalisierung und in der Pandemie ein besonderer Ort geblieben. Alle unterstützen sich durch Arbeiten, Kaffeetrinken, Abschweifungen auf eine moralische Art gegenseitig.

Eine Frage an den Philosophen: Sind Sie der Meinung, dass der alte Streit zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie langsam zum Ende kommt oder sogar schon lange beendet ist?

Ich gehöre nicht zu denen, die die analytische Philosophie lieben und vertreten. Ich habe sie immer respektiert, als das Bemühen darum, möglichst hart, klar und logisch zu argumentieren, eine strenge Diskussionskultur einzuführen. Ich sehe schon seit einiger Zeit, dass viele aus der analytischen Philosophie sich für die Geschichte der Philosophie interessieren und damit ihren strengen Gegenwartsbezug aufgeben. Man holt sich ältere Positionen, von Hegel beispielsweise, in eine ganz neue Sprache hinein. Begriffe, die heute nicht mehr so einfach zu begreifen sind: etwa was für Hegel Idee oder Sittlichkeit hieß. Das muss übersetzt werden. Und immer dann, wenn es ums Übersetzen geht, von einer Sprache in die andere oder von einer Kultur in die andere, dann sind wir im Bereich der Geisteswissenschaften. In diesem Sinne scheint mir die analytische Philosophie immer stärker dazuzugehören. Sie ist nicht mehr allein um scharfe Abgrenzung bemüht.

Umgekehrt gibt es das Wabernde in der historischen beziehungsweise historisch arbeitenden Philosophie. Und es gibt auch noch sehr viel philologische Knechtschaft. Bestimmte Individuen dienen bestimmten Herren und ihren Sprachen. Das habe ich schon im Studium in Frankfurt am Main erlebt, als alle wie Adorno sprachen und beispielsweise das »sich« in einem Satz nachstellten. Philosophie ist eben nicht nur eine professionell argumentierende Wissenschaft. Es geht auch um Weltanschauungen oder Ideen über das Leben, den Sinn des Lebens etc. Darüber wird man sich vielleicht nie restlos Klarheit verschaffen können.

Was können wir aus der Geschichte von Bibliotheken lernen?

Ich gehe im nächsten Jahr in Rente und dann habe ich ein großes Buchprojekt, das mich sicher noch lange Jahre beschäftigen wird. Es soll um eine globale Geschichte der modernen Bibliotheken gehen. Die modernen Bibliotheken funktionieren seit dem 19. Jahrhundert nicht nur als Sammlungen, sondern als gesellschaftliche Einrichtungen. Diese Bibliotheken wurden und werden nicht nur für Bücher, sondern für Menschen gebaut – eine Sache, die seit dieser Zeit als gesellschaftlich unumstritten gilt. Öffentlich nutzbare Bibliotheken können als Fortbildungsinstrument der Wissenschaft schlechthin gelten. Gerade weil sie in einem emphatischen Sinne zensurfrei sind. Bibliotheken enthalten mehrere Wahrheiten und jede Menge Widersprüche. Der Altbestand der Universitätsbibliothek beispielsweise besteht aus Büchern, die sich förmlich anschreien und gegenseitig als unwahr erklären. Es ist eine wichtige Sache, dass wir wissen, dass andere Zeiten nicht ruhige Zeiten waren, sondern immer schon aufgeregte Zeiten waren, und dass die Wahrheit nie da war in irgendeiner ruhigen Form, sondern immer erkämpft werden musste. Dass Wahrheit immer umstritten war, ist und bleiben wird: Das kann man aus einer Bibliothek und ihrer Geschichte lernen.

INTERVIEW EYCK-MARCUS WENDT

FOTO: THOMAS KADEMANN


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