Julian Schmitz ist Psychotherapeut für Kinder- und Jugendliche und leitet die Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche in Leipzig. Im Gespräch mit kreuzer erklärt er, wie Kinder mit Krisen umgehen und wie man sie dabei unterstützen kann.
kreuzer: Sie sind ausgebildeter Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeut mit dem Schwerpunkt soziale Angststörungen. Wie kam es dazu, dass Sie sich darauf spezialisiert haben?
Julian Schmitz: Ich habe mich beruflich für Kinder- und Jugendlichen-Psychologie entschieden, weil es einen sehr großen therapeutischen und wissenschaftlichen Bedarf gibt. Daher bin ich an der Universität Freiburg, an der ich studiert und promoviert habe, in einem Forschungsprojekt über soziale Ängste bei Kindern tätig gewesen. In diesem Zusammenhang habe ich viele Interviews mit Kindern geführt, die unter Ängsten leiden, wie zum Beispiel sich peinlich zu verhalten, sich in der Schule zu melden oder etwas laut vorzulesen. Mir ist bewusst geworden, wie groß der Leidensdruck für die Kinder ist. So viele Lebensbereiche sind für Kinder mit sozialen Ängsten eingeschränkt und Dinge, die eigentlich etwas Positives sein sollten, aufgrund dessen gar nicht so erlebt werden können. Es ist psychologisch eine sehr interessante und herausfordernde Störung, weil psychologische Mechanismen bei der Störungsaufrechterhaltung der sozialen Ängste eine große Rolle spielen. Dadurch bin ich dann in diesem Störungsbild sozusagen gelandet und verfolge es bis heute.
Wie würden Sie die psychische Situation von Kindern beziehungsweise Schülern derzeit einschätzen?
Mittlerweile gibt es gute repräsentative Forschungsstudien wie die die COPSY-Studie vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Da wurde die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Schulalter vor und während der Pandemie untersucht. Das Ergebnis war, dass die Zahl der psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen stark zugenommen hat. Dies betrifft nicht nur Kinder, die schon vorher belastet waren, sondern auch Patient*innen, die schon auf einem guten Weg waren. Manche Patient*innen, die in einer Therapie waren, haben eine Verschlechterung erlebt, aufgrund von Schließung der Schulen, Wegfallen der Freizeit, durch Stress und Druck in den Familien. Durch die Forschungsdaten ist eine Verdopplung der psychischen Belastung in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu sehen. In der COPSY-Studie haben sie auch die allgemeine Lebensqualität abgefragt. Lebensqualität meint zum Beispiel: Wie zufrieden bin ich mit meiner körperlichen Gesundheit oder mit meinem sozialen Netzwerk? Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen haben in der Pandemie eine niedrige Lebensqualität angegeben haben. Vorher waren es etwa nur 15 Prozent. Auch jetzt mit geöffneten Schulen und Kitas bleibt der Wert stabil. Die Unsicherheit geht nicht weg. Man darf nicht vergessen, dass viele Kinder sehr viel Schulzeit verpasst haben und nach den Öffnungen die normale Leistungsfähigkeit erwartet wurde. Das überfordert viele Schüler*innen.
Wie entstehen Ängste von Kindern entstehen und wie werden sie getriggert?
Es gibt mittlerweile gute Modelle und Erkenntnisse, wie Ängste von Kindern entstehen. Es ist nie nur ein Faktor, sondern ein Zusammenwirken von verschiedenen Einflüssen. Das bedeutet, dass es Kinder gibt, die von ihrer biologischen Disposition her eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, Ängste zu entwickeln, zum Beispiel solche, die eher ein schüchternes Temperament haben. Sie sind eher abwartend oder tun sich in neuen Situationen schwer. Dazu kommt noch, wie sich das Umfeld daran anpasst. Lernen die Kinder behutsam, neue Situationen auszuhalten, ohne überfordert zu werden? Wird ihr Selbstbewusstsein eher gestärkt? Welche Lernerfahrungen machen sie im Kontakt mit Gleichaltrigen und welche Strategien werden ihnen gezeigt, um mit Ängsten umzugehen? Also sich Ängsten stellen und merken, dass man diese bewältigen und daraus Kraft schöpfen kann für zukünftige Herausforderungen. Es ist eher hinderlich, wenn sie von ihrem Umfeld einen eher vermeidenden Stil lernen und sich aus Situationen immer zurückziehen.
Ist es nicht schwierig zu sagen, man solle sich der Angst einfach stellen?
Natürlich. Jemand, der starke Ängste hat, erlebt das unmittelbar. Es sind auch Ängste, die häufig mit einem Temperament oder Charakterzug verbunden sind. Dass man merkt, man ist in neuen Situationen aufgeregter als andere Personen und hat es schwerer, diese Ängste zu bekämpfen oder sich diesen zu stellen. Es gibt viele Menschen, die lernen, damit umzugehen. Aber klar, wenn dann eine Stressbelastung dazu kommt wie die Pandemie, wo viele »Übungsfelder« für Ängste wegfallen, dann fällt das den schüchternen Kindern danach viel schwerer. Das betrifft aber auch Erwachsene.
Das Office for National Statistics schreibt, dass etwa elf Prozent der in einer Umfrage befragten Grundschüler, die einen positiven COVID-19-Test erhalten hatten, eine wahrscheinliche psychische Störung haben und nur 7,2 Prozent derjenigen, die keinen positiven Test erhalten hatten, hatten auch eine wahrscheinliche psychische Störung. Können Sie das erklären?
Man hat in dieser Studie herausgefunden, dass Kinder mit einer leicht höheren Wahrscheinlichkeit eine psychische Störung aufgewiesen haben, wenn sie eine Covid-19-Erkrankung durchgemacht haben. Dafür gibt es zwei Erklärungen: Zum einen, dass eine Covid-Erkrankung für das Kind, und damit die Quarantäne und das Merken des Krankwerdens, nichts Abstraktes mehr ist. Dadurch wird auch die Familie stark belastet und es macht Sinn, dass es bei Kindern mehr Ängste hervor holt. Zum Anderen weiß man, dass in sozial schwächeren Gruppen häufiger Covid-19-Infektionen vorkommen, weil dort zum Beispiel nicht so gut aufgeklärt ist über die Impfung oder andere Hygienemaßnahmen. Zudem sind die Eltern oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit unmittelbaren Personenkontakt. Wir wissen aber auch, dass in sozial benachteiligten Familien häufiger psychische Belastungen auftreten. Das heißt, wenn man sich fragt, wie eine Angststörung zustande kommt und ein positiver Coronatest vorliegt, dann gibt es diese beiden denkbaren Richtungen. Es zeigt sich, dass in dieser Gruppe der psychisch kranken Kinder eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Belastung oder eine Covid-Infektion da ist. Das heißt nicht, dass es eine Kausalität ist. Aber es ist möglich.
Was denken Sie, würde helfen, um die Psyche der Kinder in solchen Krisenzeiten zu entlasten und ihnen zu helfen?
Sehr schwierig, weil es sozusagen eine objektive Belastungssituation ist. Aber häufig ist es wichtig, mit den Kindern in Dialog und Austausch zu kommen und zu fragen, wie es ihnen überhaupt geht. Bei Corona haben Kinder oft Angst, dass es unmittelbar gefährlich ist und sie ganz schwer krank werden. Man hat beobachtet, dass mehr Kinder Zwangsstörungen entwickelt haben, die mit solchen Infektionsängsten zusammen hängen. Es ist hilfreich, ein besseres psychotherapeutisches oder schulsoziales Angebot zu schaffen. Es gibt unglaublich lange Wartezeiten für einen Psychotherapieplatz für Kinder und Jugendliche. Viele Kinder müssen ein halbes Jahr und mehr warten. Nur zehn Prozent aller psychisch kranken Kinder finden den Weg in eine qualifizierte Psychotherapie. Wir sind uns in der Psychologie und mit den anderen Fachdisziplinen wie Pädagogik und sozialer Arbeit einig, dass es vor allem niederschwellige Angebote in den Schulen geben muss. Es könnte man Angebote an den Schulen für psychosoziale Gruppen geben, die die Kinder stärken. Nicht jedes belastete Kind braucht gleich eine Therapie. Viele profitieren auch davon, wenn sie erstmal überhaupt eine Ansprechperson haben.
Wie wird sich die derzeitige Situation auf die Psyche von Kinder zukünftig auswirken?
Man muss sagen, wenn man zum Beispiel auf die COPSY-Studie schaut, in der steht, dass 30 Prozent stark belastet sind, sind es 70 Prozent nicht. Das heißt, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen psychisch gut durch die Krise kommen. Es gibt aber auch die große Gruppe, die sehr stark belastet ist. Das sind tragischerweise eben die Familien, die häufig sowieso schon belastet sind. Also in denen wenig Ressourcen da sind, wo Familienmitglieder krank sind oder eine schwierige wirtschaftliche Situation herrscht. Diese Familien haben oft wenig Ressourcen für die Unterstützung bei solchen Belastungen, die Folgen einfach wieder aufzuarbeiten. Diese Familien sind weiterhin stark belastet, obwohl die Schulen und Kitas letztes Jahr wieder geöffnet haben. Die Kinder sind lange Zeit nicht in die Schulen gegangen und diese haben zwar im Winter wieder geöffnet, aber trotzdem haben wir 200.000 bis 300.000 Kinder jede Woche in Deutschland in Quarantäne. Das ist eine sehr lange Belastung und es gibt keine adäquate Hilfe. Zudem wissen wir aus der Forschung, dass es nicht so einfach ist, psychische Erkrankungen wieder los zu werden, wenn sie sich einmal etabliert haben. Je länger die Erkrankung besteht, desto eher schleifen sich die Denk- und Verhaltensmuster ungünstig ein und nehmen Schaden. Ich mache mir da auf jeden Fall Sorgen. Aber es gibt im Moment nicht viel Hoffnung, dass sich da etwas ändert.
Schüler haben sich eine Stimme geschaffen und die #WirWerdenLaut Petition auf die Beine gestellt. Ihre Forderungen sind besserer Infektionsschutz durch mehr Luftfilter, Aussetzung der Präsenzpflicht und der Ausbau digitaler Lern- und Lehrmittel. Konnten Sie beobachten, ob es was gebracht?
Es wurde ihnen punktuell zugehört. Es gab durchaus auch Treffen mit den Initiatoren in relativ engem Austausch mit den Schüler*innen von #WirWerdenLaut. Aber was den Infektionsschutz an Schulen angeht, ist eigentlich das Gegenteil passiert. Es wäre eher Überängstlichkeit, die Kinder wären gar nicht gefährdet und man hat ihnen die Angst nehmen wollen. Eine Forderung war auch, man müsse die Notenerhebung anpassen aufgrund dessen, was die Kinder und Jugendlichen in den letzten zwei Jahren an Nicht-Bildung hatten. Auch da wurde wie bei den anderen Forderungen nicht drauf eingegangen. Außer schöner Worte war wenig zu merken. Was die Gruppe von #WirWerdenLaut auch formuliert hat: „Wir wünschen uns eine gute Vorbereitung für den nächsten Pandemie-Herbst.“ Das kann man gut verstehen mit dem Hintergrund, was letztes Jahr passiert ist. Die Schulen bleiben offen, aber es sind über eine Millionen Kinder und Jugendliche in Quarantäne gegangen. Für die hat das nicht gut funktioniert. Wir sollten überlegen wie wir das in den Griff bekommen.
Haben Sie etwas, dass Sie gerne den Lesern mitteilen würden?
Ich glaube alle sind sich einig, dass Kinder und Jugendliche einen normalen Alltag brauchen. Sie sollten in die Schule gehen und Freizeitmöglichkeiten haben. Ihr Leben sollte so stabil wie möglich sein. Man muss sich ernsthaft die Frage stellen, wo sich die Pandemie auf das Leben real auswirkt, wie in den Quarantänen. Dann kann man nicht einfach leere Versprechen machen, sagen, dass die Schulen offen bleiben und am Ende sitzt die Pandemie doch wieder am längeren Hebel. Man muss ehrlich hinschauen und den notwendigen Infektionsschutz auch mitdenken, um Kindern ein stabiles Lebensumfeld zu ermöglichen. Infektionsschutz und psychosozialen Kinderschutz zusammen denken und umsetzen!