Eigentlich hätten sie gerade ihre erste Theatersaison gehabt. Alles war vorbereitet, die Gruppe fieberte der Premiere entgegen. Das neu gegründete zwanzigköpfige Dramatikerinnenkollektiv aus Kiew hatte dafür lange gearbeitet, Gelder akquiriert, ein passendes Gebäude gefunden, die erste Spielzeit bestückt. Für Mitte März war die Eröffnungspremiere geplant. Nun befindet sich das театр драматургів / Theatre of Playwright im Exil. Die Mitglieder sind überall zerstreut, viele sind geflüchtet, einige, vor allem Männer, mehr oder minder freiwillig in der Ukraine geblieben.
Am 21. April sitzt Julia Gonchar, Autorin und Mitbegründerin des Ensembles in der Schaubühne Lindenfels auf dem Podium, mit dabei drei Schauspielerinnen, die gleich Texte von ihr und ihren Kolleginnen vortragen werden. Gonchar selbst ist erst vor einigen Tagen in Dresden in der Stipendiatinnenwohnung der Sächsischen Kulturstiftung untergekommen. Und gleich am ersten Tag traf sie dort durch Zufall René Reinhardt, Künstlerischer Leiter der Schaubühne. Persönlich gekannt haben sie sich davor nicht, erzählt Reinhardt. Doch die Schaubühne hätte durch die Kiewer Buchmesse »Buch-Arsenal« bereits Kontakte mit Kolleginnen in Kiew geknüpft. Durch sie ist das Team auch auf das neue Kiewer Theaterkollektiv aufmerksam geworden. Als man sich in Dresden traf, war schnell klar, dass die Leipziger das Kiewer Exiltheater nach Kräften unterstützen wollen – und die Lesungsreihe wurde auf die Beine gestellt.
»Wir möchten dem Theater im Exil eine Plattform bieten, um ihr Programm auf diese Art dem Publikum vorzustellen«, heißt es aus der Schaubühne. Einmal im Monat werden szenische Lesungen mit Texten des Ensembles stattfinden, vor Ort und zugleich im Livestream. Das Programm kuratiert die Kiewer Gruppe. Bei jeder Ausgabe werden Autorinnen direkt vor Ort sein, oder eben – wenn es nicht anders geht – per Video zugeschaltet. Ein Pilotprojekt, aus dem eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen den beiden Häusern entstehen soll. »Wir arbeiten daran, der Gruppe im nächsten Jahr Raum und Mittel zu geben, damit sie hier bei uns produzieren können«, so Reinhardt.
Am 21. April lasen zum Auftakt Verena Noll, Johannes Gabriel und René Reinhardt aus drei Texten des Kollektivs. Neben zwei aktuellen dokumentarischen Texten – einem Auszug aus dem Chat-Verlauf des Theaters und Julias Gonchars tagebuchartigen Notizen – auch aus einem 2017 entstandenen Stück »Durch die Haut« von Natalia Blok. Ihre beängstigend visionäre Dystopie erzählt davon, wie sich der Krieg in Körper und Seele hineinfrisst. Die dort verarbeiteten Geschichten aus der Donezk-Region bekamen nun eine Aktualität, die einer erschaudern lässt. Die deutsche Version hat Julia Gonchar angefertigt, der ihre Deutschlehrerin einst prophezeite, sie würde die Sprache nie richtig lernen. Jetzt übersetzt sie in einem fort und zeigte mit ihren wirkungsstarken Übertragungen bereits, wie Lehrerinnen irren können. Die Texte lassen einen lange nicht los und das ist auch gut so. Wenn der Krieg sich hineinfrisst, ist das Einzige, was hilft, der Frieden.
Weitere Informationen zur Veranstaltung:
Die Auftaktveranstaltung zum Nachschauen.
Weiter geht es am 24.5.: mehr dazu auf der Webseite der Schaubühne.
Titelfoto: Schaubühne Lichtenfels – Screenshot.