Eine Wanderausstellung im Ariowitsch-Haus soll Schülern helfen, sich in das jüdische Mädchen zu versetzen – und Begeisterung für das Lesen und Schreiben wecken.
»Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken.« Diese Worte schreibt Anne Frank am 16. März 1944 in ihr Tagebuch. Heute, 78 Jahre später, sind sie an einer großen Stellwand im Ariowitsch-Haus, der jüdischen Begegnungsstätte im Waldstraßenviertel, zu lesen. Sie sind Teil der Wanderausstellung »Lesen und Schreiben mit Anne Frank«, die noch bis Ende Juni in Leipzig gezeigt wird. Besucht wird die Ausstellung vor allem von Grundschulklassen, denn sie wurde vom Anne-Frank-Haus in Amsterdam speziell für Kinder von der dritten bis zur sechsten Klasse konzipiert.
Sechs bunte Stellwände stehen im Ausstellungsraum. Folgt man ihnen an der Außenseite wird die Geschichte der Familie Frank anhand eines Zeitstrahls nacherzählt, biografische werden mit historischen Daten verknüpft. Auf der Innenseite, im Zentrum der Ausstellung, geht es um Anne – als Autorin und Leserin. Denn das Lesen und Schreiben gehen bei ihr Hand in Hand. Besonders beeindruckt ist sie von der niederländischen Schriftstellerin Cissy van Marxveldt, die vor allem für ihre Romane über das Teenagermädchen Joop ter Heul bekannt ist. In Annes als Briefform verfasstem Tagebuch adressiert sie ihre Einträge deshalb wohl auch an »Kitty«, einen Charakter aus ebendiesen Romanen.
»Zu der Ausstellung gibt es immer einen begleitenden Workshop, der einen Ausschnitt des Gelernten vertieft«, erklärt Kristin Kaufmann, Mitarbeiterin im Bildungsbereich des Ariowitsch-Hauses. Sie blättert in einem zugehörigen Arbeitsbuch des Anne-Frank-Hauses, das mit bunten Abbildungen und kleinen Aufgaben gefüllt ist: »Spannend ist zum Beispiel die Frage: Was würdet ihr mitnehmen, wenn ihr von heute auf morgen euer Zuhause verlassen müsstet? Was ist euch wichtig?« Die Kinder sollen so lernen, sich in die Situation von Anne zu versetzen. »Es ist ein niedrigschwelliger Ansatz für Schüler:innen, die bis dato kaum Berührungspunkte mit dem Thema Nationalsozialismus hatten«, so Kaufmann. »Sie können sich mit Anne identifizieren – auch, um zum Lesen und Schreiben zu kommen.«
Aber kann Anne Frank heute noch Identifikationsfigur sein? »Ich glaube schon, dass sie es für einige Kinder ist«, meint Kaufmann, »gerade aufgrund des aktuellen Krieges. Das ändert natürlich etwas.« Der Beginn des zweiten Weltkriegs ist zwar über 80 Jahre her, aber in Europa fallen wieder Bomben. Auch jüngere Kinder haben Smartphones, auf denen sie Bilder und Videos zerstörter Städte sehen, sie haben neuerdings ukrainische Sitznachbarinnen in der Schule. Sie könnten sehen, dass es möglich sei, selbst in eine Situation zu kommen, in der man vom Krieg bedroht ist, vertrieben wird, flüchten muss, so Kaufmann. »Natürlich soll man ihnen keine Angst machen«, betont sie. Doch das Thema bleibe aktuell, auch wenn die geschichtliche Ausgangslage eine andere sei.
»Es ist diese Wandelbarkeit der Deutungszugänge, die mich am Tagebuch Anne Franks auch 75 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung immer wieder aufs Neue fasziniert«, sagte Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, jüngst der deutschen Presseagentur. Anne Franks Gerechtigkeitsempfinden und Kampfgeist inspiriere Jugendliche bis heute. Im Ariowitsch-Haus finde momentan auch eine Veranstaltungsreihe mit Lehrkräften statt, so Kaufmann: »Wir haben ganz viele Anfragen bekommen, da Lehrende überfordert waren, wie und ob sie den Krieg thematisieren sollen«, erklärt sie die Hintergründe. »Aber letztendlich kommen sie ja nicht daran vorbei.« Die aktuelle Ausstellung ist auch für ukrainische Vorbereitungsklassen geöffnet: »Wir haben viele ukrainisch- und russischsprechende Mitarbeitende im Haus, die dann übersetzen.« In Bezug auf die Ausstellung sei insbesondere die Nachbereitung durch die Lehrenden sehr wichtig, findet Kaufmann, denn: In zwei Stunden könne man zwar nicht so tief einsteigen, aber es sei ein guter erster Schritt.
Titelfoto: Anne Frank house
Bild: Anne Frank Zentrum