Wie grundverschieden Bach-Interpretationsansätze international renommierter Pianistinnen allein auf dem modernen Flügel klingen können, war vergangene Woche auf dem Bachfest zu erleben.
András Schiffs Klavierabende gehören seit Jahren zum Leipziger Bachfest. Mittlerweile hat er hier alle großen zyklischen Werke für Tasteninstrumente aufgeführt. Jeder Tag beginnt für den 68-jährigen mit Bach, »sehr gern auch auf dem Clavichord«. Gerade dieses Detail erhellt am Donnerstagabend seine Spielweise, die sich nicht nur dynamisch einen Rahmen setzt. Überaus maßvoll lässt er die 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers Teil I für sich sprechen, scheinbar, ohne dem Notentext dabei etwas hinzuzufügen. Alle musikalischen Entscheidungen, die zu diesem Eindruck führen, sind Zeichen seiner hohen Meisterschaft. Für jedes einzelne der Stücke, findet er unaufgeregte Dynamik und plastische Artikulationen für die in dieser Hinsicht offenen Partituren. Worte der Bewunderung für Schiffs untrügliches Gespür bei der Wahl des jeweils treffenden, des so genannten »Tempo giusto« findet auch Eleonore Büning in ihrer Laudatio zur anschließenden Verleihung der Bach-Medaille der Stadt Leipzig an den Künstler. Schiffs Spiel ist an diesem Abend frei von aller Gespreiztheit oder belehrenden Attitüde, ist höhere Kunst der Klangwerdung von Bachs Partituren, indem er ihrem Ideenreichtum Leben einhaucht, ohne sie dabei in eine bestimmte Richtung zu drängen. Obwohl es sich um eine Sammlung von Präludien und Fugen handelt und nicht um einen Zyklus im eigentlichen Sinne, legt Schiff sein besonderes ästhetisches Klima über das ganze Konzert, das damit wie aus einem Guss wirkt. Seine sich dabei übertragende Grundhaltung spiegelt sich auch im Dank nach Erhalt der Bach- Medaille. Hier bleibt der Wunsch nach Frieden sein letztes Wort.
Am nächsten Tag hat die kanadische Pianistin Angela Hewitt ihren Auftritt im Paulinum, welcher den Vorabend in jeder Hinsicht stark kontrastiert. Für diesen zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers bringt auch sie extra einen Konzertflügel mit, hier ist es ein aus München bereitgestellter Fazioli mit dunklerem, ausgewogenerem Klangspektrum als es der Bösendorfer von Schiff ist. Subjektiv hoch aufgeladen interpretiert sie 24 Präludien und Fugen im Sinne von 48 einzelnen Charakterstücken. Mit royal-energetischer Attitüde, mit viel Agogik, romantisch weit aufgedehntem Dynamikspektrum und Cliffhanger-Zäsuren meißelt sie dem Publikum ihre individuelle Lesart ins Ohr und richtet den Fokus dabei weniger auf das Ganze, sondern auf häufig überartikulierte Details und bestimmte Situationen in der Stimmführung, die ihr hervorhebenswert erscheinen. Während Schiff den Notentext scheinbar für sich sprechen lässt, und dabei eine meditative Grundstimmung entsteht, lauscht man Hewitts Bach eher wie einem exzentrischen Abenteuerroman.
Die pianistische und künstlerische Krönung dieser zwei Tage ist am Freitagabend fraglos das Bach-Spiel von Daniil Trifonov. Wegen einer Verletzung des Spielapparates »beschränkt« sich der einunddreißigjährige an diesem Abend auf die Kunst der Fuge. Bach plante in diesem hochkomplexen Werk, alle Möglichkeiten polyphonen Komponierens in Variationen, so genannten Contrapunkten, über ein einziges Fugenthema auszuloten und ließ die instrumentale Realisierung offen. »Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben«, notiert Bachs Sohn Carl Philipp im Autograph. Trifonov verlegt dieses unvollendete Meisterwerk in die leiseren Sphären des Übergangs zwischen Himmel und Erde und entfaltet dort mit feinster Artikulation und Beweglichkeit seine entrückte, schimmernde Luzidität. Er realisiert seine Klangkunst auf dem Gewandhaus-Steinway, was im Zusammenspiel von Interpret und Instrument die mit Abstand überzeugendste Klangerfahrung dieser drei Konzerte für das Publikum bringt. Mit seiner Registrierung feinster Nuancen webt er ein Geflecht ebenbürtig ausgewogener Stimmen, das in seiner schwebenden Durchhörbarkeit ein Wunder zu nennen ist. Mit nobler Diskretion führt er elegant durch alle engführenden und harmonischen Verdichtungen der Textur in immer neue Räume. Mit der Choralbearbeitung »Jesu bleibet meine Freude« BWV 147 beschließt er den Abend und kehrt gleichsam in irdischere Sphären zurück.
Der Applaus für diesen Ausnahme-Künstler hat seine eigene Qualität. Er klingt nicht höflich dankend, sondern unbedingt, dicht, warm und dankbar.
Titelfoto: Daniil Trifonov (Foto: Dario Acosta), András Schiff (Foto: Peter Fischli), Angela Hewitt (Foto: Bernd Eberle)