Studierende am philosophischen Institut der Universität Leipzig kritisieren eine Lehrveranstaltung und erheben Vorwürfe der Transphobie. Die Universität und der Dozent verweisen auf die Wissenschaftsfreiheit. Ein Konflikt darüber, ob diese Freiheit Grenzen hat.
Für einige Studierende am philosophischen Institut der Universität Leipzig startete das Wintersemester turbulent: Im Vorlesungsverzeichnis entdeckten sie die Lehrveranstaltung »Historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung: Subjekt – Identität – Liebe«, die dieses Semester von Javier Álvarez-Vázquez gehalten wird. Mit Blick auf den Beschreibungstext des Seminars sowie der dort gelisteten Literatur, hier vor allem das Buch »Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns« von Christoph Türcke, schätzten die Studierenden die zu behandelnden Inhalte als eindeutig transfeindlich und unwissenschaftlich ein. Das Buch würde trans Menschen sowohl ihr Existenzrecht als auch deren Gesundheitsversorgung absprechen, es sei empirisch nicht unterfüttert und es mangele an einer aktiven Auseinandersetzung mit Betroffenen.
Öffentlich wurde der Transphobie-Vorwurf durch Leipzigs unabhängige Hochschulzeitung luhze, an die sich die Studierenden in vorheriger Absprache mit dem Gleichstellungsreferat des Studierendenrates (StuRa) wandten. Inzwischen gibt es auch eine Pressemitteilung der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften, die sich mit den Philosophiestudierenden solidarisiert. Für die Studierenden kam es nicht in Frage, sich innerhalb des Seminars mit dem Dozenten auseinanderzusetzen, wie es die Pressestelle im luhze-Artikel empfiehlt. Im Gespräch mit kreuzer betont eine Studentin: »Ich bin selbst betroffen. Ich bin selbst trans, bin operiert, habe Hormone genommen. Auf der anderen Seite stehen ein Institut und ein Dozent, der nichts damit zu tun hat. Und dann sagt uns die Uni: Redet doch mal mit ihm. Das funktioniert in diesem Machtgefälle nicht. Ich verhandele doch nicht mein Existenzrecht.« Der StuRa pflichtet ihr bei: »In einer um Cancelculture verkommene Debatte bleibt häufig unbeachtet, dass das Persönlichkeitsrecht von trans* Personen schlicht angegriffen wird. Dieses steht hier in gewisser Weise dem Grundsatz der Freiheit in Wissenschaft, Forschung und Lehre entgegen«, schreibt das Referat für Öffentlichkeitsarbeit.
Die Studierenden bereiteten einen Redebeitrag vor, den eine Studentin kurz vor Beginn der Lehrveranstaltung am vergangenen Mittwoch im Seminarraum vortrug und auf den Transphobie-Vorwurf aufmerksam machte. Hauptanliegen dessen sei nicht gewesen, den Dozenten Álvarez-Vázquez »zu diskreditieren oder zu canceln, sondern wir wollten sowohl den Rahmen dieses Seminars als auch Menschenfeindlichkeit als Diskussionsgrundlage nicht dulden«, so die Studierenden. Es sei ihnen vor allem darum gegangen, sich an die Studierendenschaft zu wenden und sich für einen wissenschaftlichen Anspruch einzusetzen. Dafür hätten sie zudem eine alternative Leseliste angefertigt. Ein Großteil der Studierenden habe nach dem Redebeitrag den Seminarraum verlassen. Der Dozent Álvarez-Vázquez hatte laut Seminarteilnehmenden mehrfach darum gebeten, den Redebeitrag vorzeitig zu beenden. Er habe kein Verständnis für die Vorwürfe gezeigt und habe von Genderpolizei und Einschränkung der Lehrfreiheit gesprochen, so eine Seminarteilnehmerin.
Auf Anfrage des kreuzer, zu den Vorwürfen und der Seminarsitzung Position zu beziehen, erklärte Álvarez-Vázquez: »Leider kann ich zu diesem Thema nicht viel sagen. Denn in meinem Seminar geht es nicht um Gender Studies oder Ähnliches. Ich denke, die Reaktion der Studierenden auf die Seminarbeschreibung beruht auf einem ebenso traurigen wie unglücklichen Missverständnis.« Darüber hinaus empfiehlt er ein Interview von Bill Maher mit Jordan B. Peterson und verwies auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Forschung und Lehre. Peterson ist kanadischer emeritierter Professor, auch ihm wurde in der Vergangenheit unter anderem Transfeindlichkeit vorgeworfen. In dem Interview kritisiert Peterson linksradikale Politiken an Universitäten und spricht von moralischen Ansprüchen, die Empfindlichkeiten den Tatsachen überordnen.
Im Grunde genommen scheint es bei dem Konflikt um das Seminar um unterschiedliche Verständnisse von Lehrfreiheit zu gehen. Denn auch die betroffenen Studierenden betonen: »Die Freiheit der Forschung und Lehre ist auch für uns enorm wichtig. Aber für uns hört Lehrfreiheit da auf, wo Wissenschaft missbraucht wird, um gegen Menschen oder Minderheiten zu hetzen. Und genau da würde Álvarez-Vázquez vermutlich widersprechen.« Wenn Wissenschaft zu einem Versteck für menschenfeindliche Ressentiments werde, dann könne von Wissenschaft keine Rede mehr sein. Dies sei insbesondere der Fall, wenn empirische Grundlagen ausblieben, sowie kritische und argumentative Auseinandersetzungen mit entsprechender Forschungsliteratur nicht stattfänden. Genau dies sei bei der als transfeindlich kritisierten Literatur von Christoph Türcke aber der Fall, so die Philosophiestudierenden.
Den Weg über die Öffentlichkeit hätten die Studierenden bewusst gewählt. Um Transfeindlichkeit erst gar nicht zum Diskussionsgegenstand machen, wendeten sie sich nur über luhze an den Dozenten. In das philosophische Institut hätten sie von vornherein kein Vertrauen gehabt, weshalb auch hier der direkte Kontakt ausblieb. Denn das Institut sei in der Vergangenheit mehrfach durch »Inaktivität sowie der Toleranz von rechten obskuren Meinungen aufgefallen«, so eine Studentin.
Die Pressestelle der Universität weist explizit darauf hin, dass weder die Studierenden noch der Fachschaftsrat oder der StuRa im Vorfeld des Seminars das Gespräch mit entsprechenden Anlaufstellen gesucht und ihre Bedenken vorgetragen hätten. Erst nach der ersten Sitzung des Seminars habe ein Studierender den direkten Kontakt zur Stabsstelle für Chancengleichheit, Diversität und Familie gesucht. »Somit liegt nun eine offizielle Beschwerde vor, der die Stabsstelle nachgeht, allerdings ohne Beteiligung der Medienöffentlichkeit«, so die Pressestelle. Die Stabstelle für Chancengleichheit der Universität Leipzig kündigten dem kreuzer gegenüber Rückmeldungen an, diese lagen bis zur Veröffentlichung jedoch noch nicht vor. Der Fachschaftsrat Philosophie und die Gleichstellungsbeauftragte der Fakultät meldeten sich auf Anfrage nicht zurück.
Die Nachfrage, ob es Prüfmechanismen gebe, die eigentlich verhindern sollten, dass sexistische, rassistische, transfeindliche oder antisemitische Inhalte gelehrt werden, verneinte die Pressestelle. Zwar seien die Institute für die Modulplanung, nicht aber für die Lehrinhalte der Veranstaltungen verantwortlich. Diese Verantwortung liege gemäß der Wissenschaftsfreiheit allein bei den Dozierenden selbst. Eine Überprüfung fände grundsätzlich nicht statt. Der StuRa finde es wenig überraschend, »dass sich zentrale Stellen aus der Verantwortung ziehen«. Weil die Fakultäten verantwortlich für ihre Inhalte sind, sollten diese sich auch verantwortlich für Kritik zeigen und Gesprächsbereitschaft zeigen, genau wie die Gleichstellungsbeauftragten.
Theresa Zängler