Es lärmt im Café Tunichtgut, während Khrystyna Kozlovska vom Aufwachsen in der Westukraine spricht, von Postsozialismus und ihrem Ankommen in Sachsen. Vor der russischen Invasion im Februar 2022 flüchtete die Schriftstellerin mit Mutter und Tochter nach Leipzig. Unterm Dröhnen und Zischen der Siebträgermaschine setzt sich das Gespräch auf Englisch fort. Aus Kozlovskas Worten klingt ungebrochene Hoffnung. Sie könne in jeder Situation etwas Positives finden, sagt sie lachend. Draußen setzt derweil der Regen ein.
Sie sind vor dem Angriffskrieg geflohen und leben nun seit März letzten Jahres in Leipzig – konnten Sie inzwischen Ihre Heimat besuchen?
Leider nein. Nicht jetzt. Ich würde gern, habe es auch vor, aber bis jetzt war es nicht möglich. Ich bin mit meiner Tochter hier, die hier zur Schule geht, und da ist es nicht so einfach.
Wie fühlt sich Ihr Leben in Leipzig an? Sind Sie angekommen, fühlen Sie sich fremd oder etwas dazwischen?
Es ist merkwürdig, denn zuvor habe ich niemals an einem anderen Ort außerhalb meiner Region gelebt. Ich konnte mir das also gar nicht ausmalen. Aber ich war immer Kosmopolitin, glaube an das Verbindende zwischen den Menschen – bei allen Unterschieden. Grenzen habe ich immer als etwas Künstliches verstanden. Als ich nach Leipzig kam, habe ich mich nicht als Fremde gefühlt. Und so unterschiedlich ist Deutschland auch nicht zur Ukraine. Es liegt aber vielleicht auch an meiner »Superkraft«: Wie bei Marvel einer zur Feuerfackel wird oder besonders elastisch ist, kann ich jeder Situation etwas Positives abgewinnen. Ich sehe immer auch Vorteile.
Was hat Sie in Leipzig überrascht oder gestört?
An so etwas kann ich mich gar nicht erinnern. Das weiß ich gar nicht. Auf den ersten Blick sahen die Menschen anders aus, trugen andere Kleidung, andere Haarfarben. Das war neu für mich, ist aber nichts Spezielles mehr. Die Leute hier sind höflicher als in der Ukraine, sie schonen dich mehr, wenn sie dir die Meinung sagen. Das kann Vorteile und Nachteile haben.
Sie kommen aus Iwano-Frankiwsk, einer Region, die den ukrainischen Schriftsteller Iwan Franko im Namen trägt. Hierzulande ist die Region vermutlich vor allem durch Juri Andruchowytsch bekannt, eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen der Ukraine. Hat Sie das als Autorin geprägt?
In der Ukraine spricht man vom sogenannten Iwano-Frankiwsk-Phänomen. Das besagt, dass sich zu einer bestimmten Zeit eine große Dichte an Autorinnen und Autoren in einer Region vorfindet, die im ganzen Land bekannt sind. Das finde ich spannend. Aber es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Umstände und Faktoren, die das eigene Schreiben formen. An der Universität habe ich Literatur bei Halyna Petrosanyak studiert, die zu diesem Phänomen zählt, wir haben verschiedene Lesungen besucht, mit Autoren gesprochen. Aber ich denke nicht, dass es mein Leben entscheidend geändert hat. Ich hätte so oder so geschrieben.
Sie haben bereits mit vier Jahren gedichtet?
Ja, ich habe so etwas wie Gedichte verfasst, Kindergedichte über Tiere, Pflanzen und solche Sachen. Aber ich konnte nicht schreiben, also musste es meine Mutter für mich tun. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht.
Können Sie als junge, mit Preisen geehrte Schriftstellerin vom Schreiben leben?
Natürlich nicht, das ist in der Ukraine undenkbar! Dort kennt man fast alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen, weil es eben nicht so viele Menschen gibt, die bereit sind, eine solche Arbeit komplett umsonst zu tun. Es sind nicht viele, aber sehr besondere Menschen und sie tun ihre Arbeit richtig gut. Nebenbei unterrichten sie an Universitäten, leiten Zeitschriften, schreiben journalistische Texte … Für mich waren die Preise eine Art Test, ob das, was ich mache, auch gut ist. Wenn ich nur Freunde frage, sagen sie immer: Ja, ja, alles wunderbar. Jetzt habe ich diese Bestätigung, aber leben könnte ich davon nicht.
Ihre Texte wurden vielfach übersetzt, unter anderem ins Esperanto. Wie kam es dazu?
Ich habe meinen ersten Erzählband im Stil des magischen Realismus geschrieben, mit vielen fantastischen, mystischen Themen, dazu passt es wunderbar, dass die allererste Übersetzung meiner Texte die ins Esperanto war. Tatsächlich habe ich einige Freunde, die Esperanto sprechen und meine Texte übersetzen wollten. Über sie habe ich überhaupt von der sehr aktiven Esperanto-Community erfahren. Letzten Sommer wurde ein Buch von mir ins Koreanische übertragen und sie haben mit der Esperanto-Übersetzung gearbeitet.
Sie sind 1989 geboren, am Ende der Sowjetära, sozusagen hinein in die Transformationsprozesse, die Entstehung der unabhängigen Ukraine. Haben Sie diese Prozesse in Ihrer eigenen Identitätsfindung beeinflusst?
Ich muss an dieser Stelle den Unterschied zwischen Ost- und Westukraine betonen. Denn in der Westukraine, wo ich herkomme, war es immer schon selbstverständlich, Ukrainisch zu sprechen, sich als Ukrainerin zu bezeichnen. Ich habe nur Ukrainisch gesprochen, war von ukrainischer Kultur und Popkultur umgeben, Russisch kannte ich nur aus dem Fernsehen. Im Osten und in der Mitte sah es anders aus, da wurde, selbst in Kyjiw, wenig bis gar nicht Ukrainisch gesprochen. Ich hatte ein sehr prägendes Erlebnis, da war ich etwa 13 Jahre alt und im Feriencamp auf der Krim. Ich stand in einer Schlange vor einer Telefonzelle, um meine Eltern anzurufen. Und als ich dann dran war, habe ich mich in den Boden geschämt, Ukrainisch zu sprechen, vor all den Menschen aus anderen Teilen der Ukraine. Damals galt Ukrainisch in Kyjiw als provinziell, man wurde oft ausgelacht. Die Ukraine war lange kolonisiertes Gebiet, alles Ukrainische: die Sprache, die Kultur galt als minderwertig. Es gab zu der Zeit eine TV-Comedy mit zwei Comedians, einem Russen und einem Ukrainer. Die Rollen waren klar verteilt: Der Ukrainer war immer der Dumme, der Tollpatsch.
Was sich mit der Orangenen Revolution oder spätestens mit Maidan änderte?
Es änderte sich von Anfang an, aber sehr langsam, es waren kleine Schritte. Die Propaganda war noch ziemlich stark, es gab viele Menschen aus der älteren Generation, die in einem ganz anderen System gelebt hatten. Dann kamen langsam neue Generationen, die bereits in der unabhängigen Ukraine groß geworden sind, es kam die Globalisierung, das Internet. Das Land hat sich geöffnet. Doch zweifellos war Maidan eine Zäsur, da hat sich gefühlt alles verändert. Es herrschte eine einzigartige Einigkeit. Natürlich gab es schon vorher starke Momente, die Revolution auf Granit (studentische Protestbewegung von 1990, Anm. d. Red.) oder die Orangene Revolution, doch Maidan ist das, was ich bewusst so erlebt habe.
Eine grausame Ironie des Schicksals ist, dass der Krieg die Menschen aus der ganzen Ukraine zusammenbringt ...
Das stimmt. Als 2014 der Krieg begann, gab es viele Flüchtlinge aus der Ostukraine und das brachte die Menschen aus Ost und West zusammen. Sie lernten sich teilweise überhaupt erst kennen. Das gilt für die jetzige Situation umso mehr. Auch hier in Leipzig kommen Menschen aus unterschiedlichen Regionen der Ukraine zusammen, sprechen miteinander, freunden sich an. Das war tatsächlich vorher nicht der Fall, man ist nicht so viel in die anderen Regionen gereist. Es ist ja das alte Problem der Menschheit, nicht nur in der Ukraine – wir lernen uns nicht kennen, wissen nicht viel voneinander.
Was auch den sogenannten Westen betrifft, wo vor Februar 2022 die wenigsten eine Vorstellung von der Ukraine hatten.
Daran sind beide Seiten schuld. Der Westen hat sich nicht interessiert und die Ukraine hat vielleicht nicht genug dafür getan, dass man die ukrainische Kultur kennenlernt. Russland spielte dabei natürlich auch eine wichtige Rolle. Es ist zwar traurig, dass erst der jetzige Krieg den kulturellen Austausch befördert, aber immerhin gibt es ihn jetzt. Und das gibt mir Hoffnung. Der Kulturtransfer muss ein wichtiger Teil der Politik werden – zum Beispiel, damit es mehr übersetzte Bücher gibt.
In Ostdeutschland herrscht in Teilen der älteren Generation eine DDR-Nostalgie. Gibt es etwas Ähnliches in der Ukraine?
Auch meine Eltern haben damals geglaubt, sie leben im glücklichsten Teil der Welt. Sie kannten nichts anderes, so wurde es ihnen erzählt und das haben sie geglaubt. Doch so eine Nostalgie gibt es nicht. Natürlich gibt es einige Ältere, die wehmütig zurückschauen. Aber wenn man Menschen fragt, wann es besser war, sagen die meisten: Natürlich jetzt. Das Einzige, was viele aus der Sowjetzeit vermissen, ist, dass damals alle Arbeit hatten. Dabei geht es nicht unbedingt ums Geld, denn viele wurden sehr gering oder zum Ende hin nur in Naturalien bezahlt. Und selbst wenn man Geld hatte, konnte man dafür kaum etwas kaufen, die Geschäfte waren leer, und wenn es etwas gab, stand man in langen Schlangen. Es ist eher eine Art Gesellschaftsgefühl: Man fühlte sich gebraucht, hatte etwas zu tun. Aber gleichzeitig war in der Ukraine die Angst so alltäglich präsent, schon deswegen ist es nicht mit der Nostalgie hier vergleichbar.
Sie gründeten die Ukraine-Bibliothek, arbeiteten in der Nationalbibliothek – hatten Sie schon immer ein besonderes Verhältnis zu Bibliotheken?
Natürlich habe ich immer schon Bibliotheken benutzt, habe dort auch als Autorin gelesen. In Deutschland aber sind Bibliotheken viel etabliertere Orte. Das wird sich in der Ukraine hoffentlich noch ändern, denn sie sind Zentren unserer Erfahrung, unserer Geschichte und Kultur.
Worum handelt es sich bei der Ukraine-Bibliothek?
Als ich ich herkam, verspürte ich den Wunsch nach Büchern, nicht nur bei mir. Auf Facebook fragten Mütter, woher sie ukrainische Kinderbücher bekommen könnten. Meine Tochter zum Beispiel schläft nicht ein, wenn ich ihr keine Gute-Nacht-Geschichte vorlese. Und als ich die Chance bekam, ein Projekt zu beantragen, plante ich, die Stadtbibliothek mit entsprechenden Büchern zu bestücken. Die Bibliothek funktioniert gut, die Regale sind immer ziemlich leer.
Sie haben 700 Bücher gesammelt, haben Sie die einfach bestellt?
Ja, 700 sind es allein für Erwachsene, meine Kollegin hat ebenso viele für Kinder besorgt. Weil die Versandkosten sonst zu teuer wären, haben die Verlage die Bücher an meinen Vater in der Ukraine geschickt. Und ein Freiwilliger brachte sie dann immer wieder, fast wöchentlich nach Deutschland.
Juri Andruchowytsch hat gesagt: »Was die Ukraine jetzt braucht, sind gute Bücher und schwere Waffen.« Wie wichtig sind Bücher derzeit?
Sehr wichtig. Wir erleben ja auch einen Informationskrieg. Und deshalb brauchen wir ukrainische Bücher, die in verschiedene Sprachen übersetzt sind. Damit die Welt versteht, was für ein Land das ist. Aber natürlich sind Bücher im Leben immer wichtig, für mich waren sie es schon immer. Als ich noch zur Schule ging, hielt ich Lesen für das Wichtigste. Mathematik, Biologie bräuchten wir nicht so sehr wie Literatur, dachte ich. Aus den Situationen und Handlungen, die man in den Geschichten erlebt, kann man etwas fürs eigene Leben lernen.
Wen würden Sie uns als Pflichtlektüre empfehlen?
Da gebe ich eine klassische Antwort: Oksana Sabuschko, Serhij Zhadan, Juri Andruchowytsch. Die sind aus verschiedenen Regionen, so dass man ein größeres Bild erhält. Und ich empfehle Artem Tschech, der derzeit wieder in der Armee ist und über diese Erfahrungen kürzlich ein Buch geschrieben hat.
Und plötzlich wird ganz viel Literatur übersetzt. Ist es nicht schrecklich, dass es erst des Krieges als Anlass bedurfte, um die Welt für ukrainische Kultur zu interessieren?
Das liegt in der Natur der Menschen, das war bei anderen Ländern auch so. Die Aufmerksamkeit richtet sich erst auf sie, wenn schlimme Dinge passieren. Es ist traurig, aber auch normal.
Sie selbst schreiben im Stil des magischen Realismus. Hat dieser eine Tradition in der Ukraine und hilft er, in schwierigen Zeiten zu schreiben?
Nein, wir haben keine starke Schule, was dieses Genre betrifft. Mein Schreiben ist nicht wirklich von äußeren Situationen beeinflusst. Ich liebe es einfach, neue Welten zu kreieren. Darum schreibe ich jetzt Fantastisches, Fantasy, so etwas wie die Serie »Black Mirror«. Warum Literatur mit der Realität verbunden sein soll, habe ich schon als Kind nicht verstanden. Wenn man an der Realität interessiert ist, kann man Nachrichten schauen oder den Erlebnissen von Freunden lauschen. Für mich ist Literatur Fiktion, die von etwas handelt, das im normalen Leben nicht stattfindet. Andere Autoren schreiben anders, aber auch sie tun das unabhängig von den Umständen. Sicherlich, das Leben in der Ukraine ist nicht so geschützt wie hier, man muss mehr ums Überleben kämpfen. Aber das schafft keine Literatur, die zur Weltflucht neigt.
Seit dem russischen Überfall haben Sie wieder angefangen, Lyrik zu schreiben. Was kann diese, was Prosa nicht vermag?
Nach 2013 verfasste ich keine Gedichte mehr. Warum ich jetzt wieder damit anfing, kann ich gar nicht sagen. Ich denke nicht so sehr darüber nach, wenn ich schreibe. Ich schreibe, wie es mir gefällt. Früher habe ich gereimt, aber Reime sind Hindernisse, engen dich ein. Darum mag ich ja Prosa, weil es dort keinen solchen Rahmen gibt. Und in den neuen Gedichten fühle ich mich frei. Wichtig ist mir, dass auch Lyrik Geschichten enthält, sie muss etwas erzählen.
Woran schreiben Sie gerade?
Das weiß ich noch nicht genau. Wenn ich beginne, habe ich noch keine Vorstellung, was es wird. So wie ich auch die Geschichte noch nicht kenne. Ich habe eine vage Idee, etwa, dass einer Person etwas Bestimmtes passiert, mehr nicht. Beim Schreiben sehe ich dann, wie es sich entwickelt.
Wenn Sie zurückkehren können, was werden Sie am meisten an Leipzig vermissen?
Parks, Seen, den öffentlichen Nahverkehr, die netten, interessanten Menschen. Und die vielen Burgen, die es hier gibt. Und ich werde »kein Stress« vermissen, die Menschen scheinen hier im Gegensatz zur Ukraine sehr relaxt.
INTERVIEW: MARTINA LISA UND TOBIAS PRÜWER
FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH
Khrystyna Kozlovska wurde 1989 in einem kleinen Dorf in der Region Iwano-Frankiwsk geboren. Die Lyrikerin und Prosaautorin studierte englische Philologie und schreibt regelmäßig Kolumnen. Für ihr Schreiben wurde sie mehrfach ausgezeichnet: zum Beispiel 2015 mit dem deutsch-ukrainischen Oles-Honchar-Preis und zuletzt 2020 mit dem Hransolov-Preis für junge Literatur. Im März 2022 flüchtete sie mit Tochter und Mutter nach Leipzig. Sie wurde Stipendiatin des Sächsischen Literaturrates, begründete das Projekt Ukraine-Bibliothek an der Leipziger Stadtbibliothek und forschte an der Nationalbibliothek zu vernichteten ukrainischen Kulturstätten inklusive verbrannter Bücher.