»Tonalität des Denkens«: In Leipzig ausgerechnet wird Byung-Chul Han seine allererste Lesung abhalten. Welche Chance, macht sich der gefeierte Kulturkritiker in der Öffentlichkeit gewöhnlich rar. Dem kreuzer gab er eines seiner seltenen Interviews.
Der Mensch ist »in Geschichten verstrickt«, wie es der Philosoph Wilhelm Schapp formulierte. Größere Sinnzusammenhänge sind heute verloren, sagen Sie. Wir erzählen nicht mehr, hören nicht mehr zu. Sie diagnostizieren metaphysische Obdachlosigkeit?
Soziale Praktiken wie Rituale oder Erzählungen machen eine Einhausung möglich. Sie errichten ein Haus, wo ein Wohnen möglich ist. Sie verschwinden heute. Erzählungen – Mythos oder Religion sind Erzählungen – geben uns Sinn und Orientierung. Sie bringen eine stabile Erzählgemeinschaft hervor. Wenn wir uns Geschichten erzählen, entstehen Bindungen. Ohne Sinn und Orientierung haben wir weder Dach noch Boden.
Wir stehen in einer Welt der Dinge, deren Gesamtzusammenhang sich uns nicht mehr erschließt, wir ihn nicht mehr verstehen?
Auch die Dinge stabilisieren das menschliche Leben. Heute zerfallen sie zu Informationen, also zu Undingen. Bei Dingen können wir verweilen, bei Informationen nicht. Die Informationen leben vom Reiz der Überraschung. So destabilisieren sie das Leben. Sie machen das Leben unsicher und kontingent. Informationen haben eine sehr schmale Aktualitätsspanne. Sie fragmentieren die Wahrnehmung. So stürzen sie uns in einen Aktualitätstaumel.
In der Leistungsgesellschaft tun wir uns die Gewalt in der Regel selbst an und verstehen das noch als Freiheit. Wenn das Subjekt in Ausschöpfung angeblicher Freiheit und aller Möglichkeiten zum Projekt wird, dann ist das Sich-Verlieren in Selfies und Storys die letzte Konsequenz?
Das Tier entreißt dem Herrn die Peitsche, um sich selbst zu peitschen. Das nennt man Selbstausbeutung. Das Tier fühlt sich frei, da es keinen Herrn hat. Wer sich ausbeutet, ist Herr und Knecht zugleich. Er optimiert sich zu Tode. Er beutet sich aus in dem Glauben, sich selbst zu verwirklichen.
Wohin steuert die orientierungslose Gesellschaft des Spätkapitalismus?
Im Kapitalismus wird alles geopfert für die Maximierung der Produktivität. Wir werden zum Daten- und Konsumvieh. Der Unterschied zwischen Knecht und Vieh ist, dass das Vieh im Gegensatz zum Knecht nicht fähig ist zum Widerstand. Das Vieh verlässt das Gehege nicht, weil es dort seine Nahrung findet. Wir werden heute gemästet mit Informationen und Konsum.
Als Gegenrezept zum Leben nach Reiz-Reaktions-Schema schlagen Sie »Untätigkeit« vor. Hat diese etwas mit Gelassenheit und Kontemplation zu tun? Und wie entgeht man der Gefahr, nicht wiederum instrumentell zu argumentieren, wenn man zur Untätigkeit rät?
Wir gleichen, wie schon Nietzsche gesagt hat, immer mehr jenen Tätigen, die rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik. Wir gleichen einer Maschine, die zu funktionieren hat. Ohne Ruhe und Verweilen entsteht eine neue Barbarei. Zu den notwendigen Korrekturen hinsichtlich des Charakters der Menschheit gehört es, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.
Ist der von ihnen konzipierte Abend im Gewandhaus so eine Möglichkeit der Kontemplation? Welche Töne werden ihre Texte anschlagen?
Ich möchte an dem Abend die Tonalität meines Denkens hörbar machen. Mein Denken hat seine Wurzel in der Deutschen Romantik. Es handelt sich um meine erste Lesung. Und diese Lesung findet nicht in Berlin, sondern in der Romantik-Stadt Leipzig statt. Mein Denken ist ohne Bach und Schumann nicht denkbar. An dem Abend werden Ausschnitte aus »Goldberg Variationen«, »Französische Suiten« von Bach und »Kinderszenen«, »Gesänge der Frühe« von Schumann gespielt. Marie Rosa Günter, die an dem Abend die Tonalität meines Denkens hörbar machen wird, ist eine fantastische Pianistin. Sie spielt mit großer Anmut und hoher künstlerischer Fantasie. Sie hat gerade im Gewandhaus ihre »Goldberg Variationen« eingespielt.
Dass der Termin auf die Welttage des Buches und des Bieres fällt, ist Zufall?
Nur der Termin war frei. Also Zufall. Aber der Zufall ist oft gebietender als jede Notwendigkeit.
Wie verhindern Sie, dass der Abend vom Publikum nur als Zerstreuung wahrgenommen wird – oder ist das nicht zu verhindern?
Die Tonalität meines Denkens lässt keine Zerstreuung zu.
> »Tonalität des Denkens«, 23.4., 18 Uhr, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal
Titelfoto: Privat.