Am Städtischen Theater in Leipzig, das als führende Wagner-Bühne galt, stand der junge Gustav Mahler von August 1886 bis Mai 1888 fast täglich vor dem Gewandhausorchester. Seine Leipziger Zeit – in der auch seine erste Sinfonie entstand – war prägend für Mahlers weitere Entwicklung und Voraussetzung für seine spätere Karriere als einer der führenden Dirigenten seiner Zeit. Anlässlich seines 100. Todestages fand 2011 das erste Internationale Mahler-Festival in Leipzig statt. Die nächste Ausgabe, ursprünglich für 2021 geplant, wurde pandemiebedingt auf Mai 2023 verschoben. Im Zentrum steht auch diesmal das sinfonische Schaffen des Komponisten, wieder werden europäische Spitzenorchester erwartet. Das Gewandhaus-Orchester unter Andris Nelsons wird mit Aufführungen der 2. und 8. Sinfonie den Rahmen des Festivals bilden. Im Vergleich zu 2011 wurde das Programm erheblich erweitert. Kammermusik, außergewöhnliche Mahler-Bearbeitungen, Filmbeiträge, thematische Stadtführungen und eine interessante Vortragsreihe bereichern das Programm. Wir sprachen darüber mit Tobias Niederschlag, dem Leiter des Konzertbüros am Gewandhaus.
Ein Festival zu Ehren von Mahler: Geht es dabei vor allem um eine Werkschau, die Möglichkeit, bedeutende Orchester zu erleben oder um die Gegenüberstellung von Interpretationen?
Grundidee ist es, den Großteil des Schaffens von Mahler – vor allem natürlich die Sinfonik – abzubilden. Somit wird die Entwicklung von Mahler als Sinfoniker nachvollziehbar, dies aber in verschiedenen Handschriften. Eine Werkschau, in der man sich in sehr intensiver Weise einem Komponisten annähern kann, steht im Vordergrund. Und Leipzig wird als wichtige Mahler-Stadt in den Mittelpunkt gestellt. Mahler hat hier gewirkt, mit dem Gewandhausorchester viel in der Oper aufgeführt. Aus diesem Anlass lädt man Orchester ein, die selbst eine Mahler-Tradition haben, oder auch Orchester, die Mahler seinerzeit selbst dirigiert hat. Dazu gehören beispielsweise die Tschechische Philharmonie, mit der Mahler seine 7. Sinfonie uraufgeführt hat oder die Münchner Philharmoniker, mit denen Mahler die 4. Sinfonie und »Das Lied von der Erde« zur Uraufführung gebracht hat. Das sind authentische Mahler-Orchester, die diese Tradition aus erster Hand mitbringen. Damit wird Leipzig auch zur wichtigen Tourneestation für große Orchester. Orchestergastspiele sind in Leipzig ja eher die Ausnahme. So wird auch internationales Festivalpublikum den Weg nach Leipzig finden.
Das Festival startet mit einer Überraschung: »Die drei Pintos« sind das von Mahler vervollständigte Fragment einer komischen Oper Carl Maria von Webers. Wie viel Mahler steckt in dem Werk?
In seiner Kapellmeisterzeit in Leipzig hat Mahler das Fragment vervollständigt und zur Uraufführung gebracht – damals ein großes Ereignis, bei dem der junge Mahler ebenso als Komponist wie als Dirigent wahrgenommen wurde. Mehr als die Hälfte der Musik stammt von ihm. Vor allem in den Orchesterzwischenspielen, die Mahler in ganz eigenständiger Weise basierend auf Webers Material weitergedacht hat, hört man in der Orchesterbehandlung schon den späteren Komponisten durchschimmern. »Die drei Pintos« werden vom Gewandhausorchester unter Petr Popelka konzertant aufgeführt, seit der Uraufführung 1888 wurde das Stück in Leipzig nicht mehr gespielt. Es ist wirklich eine Rarität, auch für Mahler-Fans.
Es gibt diesmal auch viel Kammermusik zu erleben. Zum größten Teil handelt es sich dabei um Bearbeitungen sinfonischer Werke. Was spricht für diese Form der Aufführung?
Wir haben auf der einen Seite das Konzert mit Mahlers Klavierquartett, einem Originalwerk, und dem Klavierquartett von Alfred Schnittke nach einem Mahler-Fragment. Natürlich stellt sich bei Bearbeitungen immer die Frage nach dem Mehrwert gegenüber dem Original. Viele Bearbeitungen sind für sich genommen historisch sehr interessant. Eine kunstvolle Bearbeitung der 4. Sinfonie für größeres Kammerensemble beispielsweise kommt von Erwin Stein, einem Komponisten aus dem Schönberg-Umfeld, entstanden für den Verein für musikalische Privataufführungen, einen Kreis von Kennern und Liebhabern. Die Struktur der großen Werke ist hier auf die Essenz reduziert, man wundert sich teilweise, wie es möglich ist, mit so wenig Musikern einen ganz ähnlichen Eindruck zu erzeugen.
Die 5. und 6. Sinfonie bieten wir auch in Fassungen für Orgel und geben damit ebenfalls einen anderen, etwas unvertrauteren Blick auf das Repertoire, das hier eine eigene neue Qualität entwickelt.
Mahler ist nicht dafür bekannt, ein Klavierkomponist gewesen zu sein. Igor Levit aber wird in seinem Klavierabend eine Bearbeitung des Adagios aus der 10. Sinfonie spielen. Die Fassung stammt von Ronald Stevenson aus dem Jahr 1986. Natürlich wurde das Werk für großes Orchester geschrieben. Bei einem Klavierabend steht wiederum auch eine sehr intime Seite im Mittelpunkt. Gerade weil Mahler auch emotional ins Extrem geht, liegt in einem solchen Spannungsfeld dann ein ganz eigener Reiz.
Zu den neuen Festival-Formaten gehören nach den großen Konzerten auch die Lounges. Was passiert dort?
Hier kommen nach den Konzerten Künstler des Abends, darunter Sänger, Dirigenten, Mahler-Experten, Konzert-Manager mit Moderator Klaus Fischer ins Gespräch. In ungezwungener Atmosphäre wird da über Mahler gesprochen und man kann etwas über den persönlichen Bezug der Künstler zum Repertoire erfahren.
Tourneen großer Orchester und Gastspiele werfen heute automatisch auch die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck auf. Wie geht man beim Gewandhaus damit um?
Das Thema wird immer wichtiger für alle Orchester. Es macht Gastspiele natürlich nicht einfacher. Tourneen werden auch beim Gewandhaus mittlerweile anders geplant, beispielsweise, was die Abfolge der Städte betrifft. Man schaut, dass man möglichst viele Reisen mit der Bahn macht. Dieses Umdenken beginnt jetzt gerade erst, aber die Überlegungen sind dringend.
Alle zwei Jahre soll künftig ein größeres Festival am Gewandhaus stattfinden. Was erwartet uns in Zukunft?
Für 2025 planen wir ein großes Schostakowisch-Festival zum 50. Todestag des Komponisten.
> Mahler-Festival: 11.–29.5., www.gewandhausorchester.de/mahler-festival
Foto: Tim van Beveren.