»Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.« (Friedrich Nietzsche) Vorm Fenster seines Büros zupft eine Taube ausdauernd Zweige für den Nestbau aus dem Baum, während Dirk van Laak geduldig die Fragen seiner Gäste beantwortet. Anlass des Gesprächs ist der Deutsche Historikertag, der in Leipzig stattfindet. Doch geht es weit über diesen hinaus, berührt den neuen Historikerstreit und die Aufgabe der historischen Wissenschaft und bekräftigt die Vorsicht vor Pauschalurteilen.
Das Motto des Historikertags lautet »Fragile Fakten«. Ist das quellen- oder zeitkritisch gemeint?
Beides natürlich, außerdem alliteriert es so schön. Mit Fakten gibt es einen neuen Umgang, das hat mit sozialen Medien und dem Infragestellen von Wahrheiten, mit Querdenkertum zu tun, also mit Wahrheiten, die Einzelne für sich reklamieren. Außerdem steckt darin das Handwerkszeug des Historikers: Fakten sind immer fragil, weil sie von Recherchen, von Quellen abhängen. Neue Dokumente können Gewissheiten infrage stellen. Außerdem ist die Geschichtswissenschaft diskursiv, das beinhaltet ebenfalls Fragilität. Digitalität spielt sicherlich auch eine Rolle, außerdem das Konfrontative unterschiedlicher Weltbilder oder kultureller Verständnisse oder die Frage, was Vergangenheit sein soll, welche Rolle Geschichte in der Öffentlichkeit spielt. Soll der Umgang damit affirmativ oder kritisch sein? Damit spielt die visuelle Darstellung des Plakats mit dem Kartenhaus: Allzu sicher darf man sich nie sein.
Stürzt das Kartenhaus ein, bleibt außer Trümmern nichts. Mit neuen Fakten könnte ein neues Kartenhaus entstehen.
Über den Aspekt haben wir beim Entwurf tatsächlich diskutiert. Es wird doch recht deutlich, was gemeint ist. Und sei’s drum: Wir erleben in der Geschichte immer wieder eingestürzte Kartenhäuser, Weltbildwandel und Paradigmenwechsel, auch wissenschaftstheoretisch.
Hat das Kartenhaus deshalb keinen Boden? Wissenschaft ohne absichernde Letztbegründung ist hier hübsch dargestellt …
Das sieht natürlich nicht jeder so. Geschichte ist auch eine wertvolle Ressource, das merken wir immer wieder, jetzt auch beim Krieg Russlands. Es wird auf Geschichte und vermeintliche Lehren daraus zurückgegriffen. Da haben wir Historiker gut zu tun, ein kritisches Verständnis dagegenzuhalten.
Kann man aus Geschichte lernen?
Die Frage quält uns ein bisschen. Man kann das gar nicht so leicht beantworten. Das klassische Verständnis bis ins frühe 19. Jahrhundert – historia magistra vitae: Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens – kehrt jetzt in der Postmoderne teilweise zurück. Es gibt ein auffälliges Bedürfnis nach Geschichte, nach Beispielen, nach Biografien, nach Veranschaulichung von Erfahrung und nach Narration. Das entspricht wahrscheinlich einem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung über Erfahrung. Welche Lehren zu ziehen sind, muss aber jeder für sich selbst ausmachen. Die großen formelhaften Lehrsätze aus der Geschichte, etwa das Versprechen eines ewigen Fortschritts, scheitern. Damit werden wir derzeit wieder konfrontiert, da wäre es unsere Aufgabe, dagegenzuhalten. Es macht uns bei der Politikwissenschaft oder Soziologie, die eher modellhaft denken, unbeliebt, wenn wir mit unseren Ausnahmen um die Ecke kommen und darauf hinweisen, dass die Ereignisse doch oft komplexer waren. Ich kann harmonisierende Geschichtsbilder überhaupt nicht nachvollziehen. Und es ist immer etwas faul, wenn sich jemand alte Zeiten zurückwünscht.
Da wird versucht, Formeln oder Gesetze abzuleiten?
Das sind zwei verschiedene Arten des Denkens, die sich im besten Fall ergänzen. Wir Historiker lernen viel durch Reduktion oder modellhaftes Denken. Das vernebelt jedoch nicht meine Wahrnehmung der Bandbreite geschichtlicher Phänomene. Jede Epoche war anders und besitzt eine andere Konfiguration. Und über deren Fremdheit kann man doch aus Geschichte lernen. Außerdem gibt es die Ebene der Erinnerungskultur und des öffentlichen Gedenkens. Dort kommt es zu Prozessen der vorläufigen, mittelfristigen Einigung auf bestimmte Lehren, die man zieht. Zum Beispiel 1933 oder der Holocaust: Das sind natürlich Referenzpunkte, über deren Beurteilung wir nicht jeden Tag diskutieren möchten – im Detail natürlich schon, die kann man immer befragen und kritisieren. Da sind wir wieder bei den fragilen Fakten, zu denen wir Historiker gerne öfter gefragt werden würden. Wir nehmen aber wahr, dass im Geschäft der Erinnerungskultur verschiedene Akteure tätig sind, die nicht immer über die gleiche Expertise verfügen.
Ist der Historikertag der Versuch, die Öffentlichkeit zu erreichen?
Er hat eine Zwitterfunktion: Einerseits ist er ein Treffen der professionellen Historiker. Andererseits will er der Öffentlichkeit eine Leistungsschau bieten, so dass interessierte Bürger auf niedrigschwellige Art sehen können, was bei uns gerade so läuft. Sie können sich in die Panels oder Diskussionen setzen oder am Begleitprogramm teilnehmen.
Der zweite Historikertag überhaupt fand in Leipzig statt.
Das war 1894. Anlass war die Organisation der Geschichtsprofessoren gegen die Vernachlässigung von Geschichte in den Schullehrplänen, übrigens eine Dauerklage der akademischen Historiker. Das zweite Mal war der Historikertag 1994 in Leipzig. Ich war da mit meinem ersten Vortrag dabei, die Stadt sah auch noch sehr anders aus. Und als ich vor drei oder vier Jahren angefragt wurde, ob der Historikertag in Leipzig stattfinden sollte, fiel mir nichts ein, was dagegensprechen würde. Die Stadt ist von der Logistik und ihrer Infrastruktur her ideal. Außerdem hat sie die richtige Größe, das kann gar nicht mehr jede Uni-Stadt stemmen.
Hatten frühere Historikertage auch mit viel Publikum zu rechnen?
Sie entwickeln sich. Als ich 1986 das erste Mal als Student auf einem Historikertag war, war das ein Treffen von etablierten Vertretern der Zunft und ein Kollegentreffen, Kolleginnen gab es damals kaum. Das hat sich in mehrfacher Hinsicht geändert: Erstens sind die Historikertage viel jünger geworden, der Nachwuchs ist stärker vertreten. Zweitens war die öffentliche Aufmerksamkeit viele Jahre stark auf den Historikertag gerichtet – Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung, Goldhagen-Debatte, Denkmaldebatten in Berlin, die DDR-Geschichte und so weiter. Das waren 25 Jahre deutsche Selbstorientierung zwischen den Achtzigern und den Nullerjahren, die überproportional große öffentliche Aufmerksamkeit für historische Diskussionen mit sich brachte. Derzeit ist die historische Analyse aber nicht mehr ganz so stark nachgefragt, jetzt werden eher Soziologen gebeten, unsere Gesellschaft zu charakterisieren. Das ist schade, weil die Geschichtswissenschaft sich in den letzten 30 Jahren stark geöffnet hat. Das Feld dessen, was die Geschichtswissenschaft für historisch relevant hält, ist breit und bunt, das findet sich auch im Programm wieder.
Müsste sich die Geschichtswissenschaft öfter einmischen?
Ja, klar. Das sage ich auch selbstkritisch, weil ich das viel zu wenig tue. Ich bin nicht der Typ, der sich schnell und lautstark zu Wort meldet. Erstens denken Historiker prinzipiell gerne noch einmal nach, bevor sie etwas sagen. Zweitens ist die Generation, die jetzt die Lehrstühle innehat, anders gestrickt als die Generation davor. Die hatte es noch viel stärker als ihre Aufgabe empfunden, kulturelle Hegemonien abzustecken und herzustellen; so sind die meisten von uns nicht geprägt. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Medien immer dieselben Leute fragen, weil sie schnell verfügbar sind, selbst wenn sie gar nicht so einschlägig sind. Historiker kommen meistens sehr abgewogen daher, scheuen die steile These. Aber in der Ukraine-Krise zum Beispiel haben sich viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit wichtigen Stimmen zu Wort gemeldet, in Leipzig hatten wir Ringvorlesungen dazu. Aber ja, um die Öffentlichkeit muss man kämpfen.
Sie haben die Professur für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts inne. Das ist ungewöhnlich, wo doch die Epochen sonst enger abgegrenzt werden.
Das ist pragmatisch begründet, weil ich zwei Professuren ersetzt habe. Aber tatsächlich wird an den historischen Instituten die klassische Epocheneinteilung hinterfragt. Das Gleiche gilt für geografische Räume. Je näher wir der Gegenwart kommen, umso mehr müssen wir auf allen Ebenen informiert sein. Man muss heute globalgeschichtliche und verflechtungsgeschichtliche Kenntnisse haben. Das ist einer der wichtigen Prozesse der letzten 20 Jahre, dass man von diesen Nationalgeschichten, den räumlichen und geistigen Begrenzungen weg ist.
Wie nehmen Sie die Diskussion um die Rückgabe von Beutekunst wahr?
Das sind interessante Fragen: Erstens gibt es ein Interesse für außereuropäische Kulturen, was begrüßenswert ist, zweitens eine stärkere Wahrnehmung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter dem Kolonialaspekt. Man versucht, eine postkoloniale Perspektive einzunehmen, das finde ich gut, wenn sie wirklich einen offenen Horizont hat. Und es drückt ein neues Bewusstsein für Ungleichheits- und Eigentumsverhältnisse aus. Über dieses Eigentum wird in der bürgerlichen Gesellschaft ja vieles an Herrschaftsverhältnissen camoufliert. Es muss alles jemandem gehören. Schaut man genauer hin, verschwimmt das, erweist sich das als ein ewiger Aushandlungsprozess, bei dem es auch Zustände der Herrenlosigkeit gibt oder des ständigen Besitzerwechsels.
Haben Sie ein Beispiel?
Man kann hier in Leipzig fragen: Wem gehören bestimmte Häuser? Wer kann mit welchem Recht den Besitz beanspruchen, wenn verschiedene Systeme drübergegangen sind? Ein Haus, das einem Juden in den Zwanzigern gehört hat, dann »arisiert«, von einem Nazi-Funktionär angeeignet und nach 1945 in Volks
eigentum überführt wurde, dann hat es jemand ersessen durch 30 Jahre Leben darin oder erwarb in der Wendezeit durch die Modrow-Gesetze den Grund und Boden – das möchte man juristisch gar nicht klären müssen, aber für Historiker ist das ein spannendes Feld. Und mit der Beutekunst-Frage ist auch der Historikerstreit 2.0 verbunden, zu dem wir auf dem Historikertag eine Diskussion durchführen.
Dabei stellt die eine Seite die Singularität des Holocaust als diskutabel dar?
Es geht um die vermeintliche Konkurrenz zwischen der überragenden Stellung des Holocaust und den Kolonialverbrechen. Es betrifft das Selbstverständnis und die historischen Referenzpunkte der erweiterten Bundesrepublik. Was ist unumstößlich und was kann man in neuem Licht betrachten? Es geht auch um Opferkonkurrenzen, Fragen der Vergleichbarkeit und die Einbeziehung von neuen Aspekten in die deutsche Geschichte, die dadurch multikultureller, weniger weiß wird. Gesellschaften, die sich dynamisch wandeln, befragen auch ihre Geschichte neu. Da steckt immer viel Emotion drin, das ist nicht leicht zu lösen und materialisiert sich in den Objekten, die vom Grassi-Museum und anderswo zurückgegeben werden. Da stellt sich erneut heraus, dass alles nicht so einfach ist. Da geht es auch wieder um Eigentumstitel.
Wie gut kannten Sie Leipzig, bevor Sie herkamen?
Ich freue mich heute noch jeden Tag, in dieser schönen Stadt zu leben, die mich ästhetisch sehr anspricht und dabei kompakt ist. Hier morgens in die Zeitung zu schauen und abends in der Oper oder im Gewandhaus zu sitzen, ist ein Privileg. Das war ja auch ein Grund, warum ich mich hier beworben habe.
Die Stadt hat Sie angezogen, nicht die Professur?
An der Professur hat sich nicht so viel geändert im Gegensatz zu Gießen. Leipzig ist die schönere Stadt und auch Sachsen hat mich gereizt. Als Zeithistoriker findet man spannend, was hier passiert. Ich habe die Nachwendezeit in Thüringen erlebt, habe in eine Thüringer Familie eingeheiratet. Unsere Kinder sind Nachwendekinder. Insofern ist mir die deutsch-deutsche Ebene wichtig, die habe ich auch in Gießen bespielt. Ich habe Seminare zur DDR-Geschichte abgehalten, habe mich zusammen mit meiner Frau – sie ist ebenfalls Historikerin – mit dem Gießener Notaufnahmelager beschäftigt, das die erste Anlaufstation für Übersiedler war.
Sie sind Teil eines wissenschaftlichen Beirats, der die Stadt in Fragen von Straßenumbenennungen berät?
Wir hatten uns vor einem Jahr drei Namen zu stellen: Arndt, Pinkert und Jahn. Ich habe das bei den Bürgern als sehr umstritten wahrgenommen. Wir sollten Empfehlungen aussprechen.
Was haben Sie geraten?
Wir haben uns nach Abwägung aller Dinge gegen die Umbenennungen entschieden. Aber das kann man in 20 Jahren wieder anders sehen. Diese ganzen Jahn-Straßen sind oft erst in den 1930er Jahren benannt worden, nachdem die Nazis Jahn in ihrem Sinne interpretierten. Sicher, er war Franzosenhasser und bei ihm finden sich antisemitische Elemente. Aber folgen wir nicht der Nazi-Interpretation, wenn wir die Straße umbenennen? Oder schauen wir lieber, was er selbst geschrieben hat? Das war bei Arndt letztlich auch der Fall. Natürlich hat Pinkert hier Völkerschauen zeigen lassen, was zu seiner Zeit aber kein Skandal war. Und da muss man auch fragen: War er ein kolonialistischer Scharfmacher, hat er sich rassistisch geäußert? Das kann man ihm nicht nachweisen. Ihn für die uns heute zu Recht skandalös erscheinenden Völkerschauen abzustrafen, ist problematisch. Da haben Sie wieder die Vielschichtigkeit der historischen Ebenen, die bei Fragen der Erinnerungskultur und des gesellschaftlichen Umgangs mit Geschichte anklingen. Bei anderen Namen dagegen wundert man sich. Die Kirow-Werke in Plagwitz heißen nach einem Stalinisten, dessen Ermordung Anlass für die Säuberungen der 1930er Jahre war. Weil das eine Trademark ist, hält man daran fest.
Seit Kurzem tobt wieder eine Ost-West-Debatte. Fühlen Sie sich angesprochen, wenn es heißt, die Wessis hätten den Osten überrannt?
Offen bin ich damit nie konfrontiert worden. Aber natürlich war mir das bewusst, als ich in Jena anfing. Wir waren zwei Assistenten aus dem Osten und zwei aus dem Westen und haben Unterschiede in unseren jeweiligen Sozialisationen und Interessen festgestellt. Aber wir haben eher unsere regionale Vielfältigkeit gefeiert. Daher habe ich gehofft, dass sich die Ost-Frage in solchen Regionalitäten auflöst. Aber ich nehme durch das Buch meines Kollegen Dirk Oschmann, den ich seit 25 Jahren kenne, zur Kenntnis, dass er einen Punkt getroffen hat. Ich bin natürlich unsicher, wie weit ich das auf mich beziehen soll. Ich hoffe jedenfalls, dass daraus ein Impuls für weitere Forschungen entsteht.
Inwieweit?
Zum Teil wird ja über die Nachwendezeit an den Universitäten schon neu nachgedacht und werden Erfahrungen ausgetauscht. Hier am Lehrstuhl haben wir im vergangenen Jahr eine Forschungsstelle Transformationsgeschichte gegründet. Es wird in Zukunft sicherlich mehr deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte betrieben und in einem europäischen Rahmen verortet und verglichen werden. Da lassen wir die engen deutsch-deutschen Animositäten hoffentlich hinter uns, die auch ein wenig wie Schatten- und Rückzugsgefechte der älteren Kohorten wirken. Aber das Redebedürfnis besteht nach wie vor. Im nächsten Semester veranstalten wir wieder ein Seminar zu Erfahrungen in der Wendezeit und kooperieren mit dem Stadtgeschichtlichen Museum bei einer Ausstellung.
Wie erklären Sie Menschen den Osten, die noch nie hier waren?
Auch da gilt: Jede formelhafte Aussage ist für die Katz und stimmt schon mal nicht. Alles, was pauschalisierend daherkommt, muss man daher unterlaufen und differenzieren.
Biografie
Dirk van Laak, geboren 1961 in Dinslaken, studierte Geschichte und Germanistik in Essen und promovierte an der Fernuni Hagen über das Fortwirken Carl Schmitts in der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Von 1993 bis 2007 war er wissenschaftlicher Angestellter und Assistent an der Universität Jena und habilitierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Infrastruktur in Afrika. Den Lehrstuhl an der Universität Gießen verließt er 2016 zugunsten der Universität Leipzig, wo er als Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts lehrt.