Der Vortragssaal der Bibliotheca Albertina ist voll, manche Interessierte stehen oder haben sich kurzerhand auf den Boden gesetzt. Diesen Andrang hat Susan Neiman verursacht, die US-amerikanische, jüdische Philosophin und Autorin, die mit Ulrich Gutmair, Kulturredakteur der taz, über ihr neues Buch »Links ist nicht woke« sprach.
In dem Buch versucht sich Neiman an einer aktuellen Definition des Links seins. Es geht um Kritik an Identitätspolitik. Die Identität eines Menschen setze sich aus vielen verschiedenen Einzelaspekten zusammen, meist werde man aber auf einige wenige Bruchstücke der Identität reduziert, die man obendrein gar nicht beeinflussen könne, zum Beispiel Ethnie, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit, so Neiman. (Ganz ähnlich argumentierte auch Deborah Feldman, die Autorin des Sachbuchs »Judenfetisch«, auf der Frankfurter Buchmesse). Natürlich stehen bei ihren Auftritten im Moment der Angriff der Hamas auf Israel und der Krieg im Nahen Osten im Raum. »Es ist mir tausend Mal wichtiger, dass ich eine Universalistin bin, als dass ich ein paar Gene mit Benjamin Netanyahu teile«, sagt Neiman.
Links verortet zu sein bedeute für Neiman, Beziehungen zu Menschen vieler verschiedener Herkünfte eingehen und Verantwortung für sie übernehmen zu können. Was sie unter »Woke« versteht, kommt während des Gesprächs jedoch nicht zur Sprache. Auch in ihrem Buch heißt es eher vage: »Woke hebt hervor, in welcher Weise die Rechte einzelner Gruppen beschnitten worden sind, versucht hier Abhilfe zu schaffen und Wiedergutmachung zu leisten. Doch wenn vor allem Machtungleichgewichte im Fokus stehen, bleibt die Idee von Gerechtigkeit oft auf der Strecke.«
Äußerst wichtig für einen linken Standpunkt sei, neben dem Bekenntnis zum Universalismus und der Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht, die Überzeugung, dass Fortschritt möglich sei, betont Neiman. Sie zeigte sich erstaunt darüber, dass zum Beispiel im Diskurs über das Patriarchat vor allem auf die noch bestehenden Missstände hingewiesen werde. Es sei genauso wichtig, sich den bereits erreichten Fortschritt bewusst zu machen und daraus Hoffnung für weitere Fortschritte zu gewinnen.
Es ist die klare Leichtigkeit in Neimans Auftreten und Ausdrucksweise, die sich auch in ihrem Buch wiederfindet und mit der sie so manchen Zuhörer, so manche Leserin für sich einzunehmen weiß. Dass ihr neues Buch trotz einer derart komplexen Thematik mit 176 Seiten auskommt, transportiert auch ein Versprechen: Ich erkläre euch prägnant und verständlich, was eigentlich schiefläuft in der Debatte. Angesichts der allgegenwärtigen Reizüberflutung natürlich ein verlockendes Angebot. Ebenso wie im Gespräch mit Gutmair mäandert Neiman dabei jedoch gern mal vor sich hin, lässt viele persönliche Erfahrungen einfließen, zitiert Freunde. Die Form zeigt sich also unterhaltsam, der Inhalt beantwortet manche Fragen überraschend erfrischend, wirft dafür aber andere auf. Die Debatte ist tot – lang lebe die Debatte!
> Susan Neiman: Links ist nicht woke. München: Hanser 2023. 176 S., 22 €