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»Ehrenämter zeigen auch Missstände auf«

Kulturwissenschaftlerin Anneke Stamer forscht zu ehrenamtlichem Engagement

  »Ehrenämter zeigen auch Missstände auf« | Kulturwissenschaftlerin Anneke Stamer forscht zu ehrenamtlichem Engagement  Foto: Stockfoto

Nach ein paar falschen Abbiegungen in den Wirren des Geisteswissenschaftlichen Zentrums (GWZ) treffen wir Anneke Stamer schließlich im hintersten Eckbüro an. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig und Teil der Forschungsgruppe »Selbst ist das Dorf?«. Ihr Fokus liegt auf dem ehrenamtlichen Engagement in ländlichen Gegenden Sachsens.

Wie definieren Sie Ehrenamt?

Wir definieren den Bereich des Ehrenamts recht weit: Dazu gehören alle freiwilligen, unentgeltlichen, gemeinwohlorientierten, gemeinschaftlichen oder kollektiv ausgeübten Praktiken sozialen Engagements. Eine engere Definition wäre ein auf Ämter und mit einem gewissen Institutionalisierungsgrad ausgelegtes Ehrenamt. Allerdings zählen wir alles, was freiwillig und von  Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, als Engagement und damit auch als Ehrenamt.

Warum engagieren sich Menschen ehrenamtlich?

Das ist wirklich sehr unterschiedlich. Die meisten tun dies aus eigenem Interesse, weil sie es als sinnvoll empfinden und es genießen, mit anderen Menschen zusammenzukommen und etwas auf die Beine zu stellen.

Wie viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich?

Die letzten Zahlen des Deutschen Freiwilligensurvey von 2019 ergaben, dass deutschlandweit 39,7 Prozent  der ab 14-Jährigen zivilgesellschaftlich freiwillig engagiert sind. Das ist seit dem Beginn der Studie vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 1999 ein Anstieg um gut 9 Prozent. Frauen sind 2019 das erste Mal gleich stark wie Männer engagiert. Und Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss sind eher engagiert als Menschen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss.

Und wie wirken sich die Inflation oder der Anstieg der Arbeitslosenzahl aufs Engagement aus?

In einem politischen Diskurs werden Ehrenämter auch als Ersatzleistung verhandelt. Das bedeutet, dass in strukturschwachen Regionen aktive Bürgerinnen und Bürger dabei sind, Defizite der dortigen Infrastruktur auszugleichen. Und genau das wird politisch viel kritisiert. Ehrenamt darf nicht als Ersatzleistung der Zivilgesellschaft für wegfallende staatliche und wirtschaftliche Strukturen genutzt werden. Ansonsten würde dies einen instrumentalisierenden Blick auf das Ehrenamt bedeuteten.

Wie lässt sich die Spannung zwischen den guten Absichten eines Ehrenamts, wie gegenseitiger Hilfe und Solidarität, und dessen Instrumentalisierung als unbezahlte Arbeit und kostenlose Ressource auflösen?

Da muss man politisch drauf reagieren. Es kann auf keinen Fall eine Lösung sein, nur noch Ehrenamt zu fördern, wenn die Kommunen wenig Autonomie und Geld haben. Ehrenamt muss politisch weiterhin gefördert werden. Aber es muss trotzdem auch investiert werden. Es darf keine Verlagerung auf die Zivilgesellschaft geben – und das müsste man in der Förderstrategie des Staates berücksichtigen. Ehrenämter zeigen auch Missstände auf. Und gerade in ländlichen Gegenden gibt es Bürgerinitiativen, die darauf aufmerksam machen, dass ihre Infrastruktur wegbricht.

Sie beschäftigen sich mit dem Engagement in ländlichen Gegenden. Wie unterscheidet sich dieses denn von dem in der Stadt?

Deutschlandweit sind etwas mehr Menschen in ländlichen Gegenden engagiert als in der Stadt. In Sachsen sind etwa zwei Drittel aller Vereine im ländlichen Bereich verortet. In einem Vergleich von Dörfern und städtischen Kiezen gibt es dahingehend Parallelen, dass die Vereine oder Projekte zu einem Treffpunkt werden, an dem man sich kennenlernt und die Kiez- oder Dorfidentität gestärkt wird.

Unterscheidet sich das Engagement der Leute in Ost und West?

Nicht wesentlich. Grundsätzlich haben in der DDR Vereinsstrukturen nicht so eine große Rolle gespielt, da das Soziale mehr an Betrieben hing und auch dort organisiert war. Aber die Unterschiede haben sich in den letzten Jahren immer mehr ausgeglichen. Es gibt ähnliche Herausforderungen, mit denen sich die Menschen auseinandersetzen müssen. Aber das kann natürlich von Ort zu Ort noch einmal stark variieren.

Wie würden Sie das Verhältnis von Engagement und Lohnarbeit beschreiben?

Es kann ein Konkurrenzverhältnis sein, weil es stark an Zeit und Ressourcen geknüpft ist. Viele Leute, die wir in unserer Studie interviewt haben, sind freiwillig in Teilzeit gegangen, um sich ihrem Ehrenamt mehr zu widmen. Für sie ist es ein wichtiger Teil ihres Lebens, weshalb sie lieber etwas weniger verdienen. Leute, die sich viel engagieren und auch darüber definieren, äußerten schon die Vermutung, dass weniger Engagierte nicht so richtig Lust hätten, sich zu engagieren, aber sie verstehen grundsätzlich schon, dass Lohnarbeit den Zugang zum Engagement erschwert.

 


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