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Kultur

Politik für die Norm-Frau? Nein, danke!

Sibel Schick liest in Leipzig aus ihrem Buch »Weißen Feminismus canceln«

  Politik für die Norm-Frau? Nein, danke! | Sibel Schick liest in Leipzig aus ihrem Buch »Weißen Feminismus canceln«  Foto: Cihan Çakmak

Auch wenn Sibel Schick nur über Zoom aus ihrem neuen Buch lesen wird, ist der kleine Raum von Rotorbooks in der Kolonnadenstraße prall gefüllt. Zwischen Tischen und Bücherregalen sitzen etwa 35 Zuhörerinnen und Zuhörer und schauen gespannt auf die Beamerprojektion der Autorin. Im September vergangenen Jahres erschien ihr neues Buch »Weißen Feminismus canceln« im S. Fischer Verlag. Seitdem, so erzählt Schick, sei sie nun schon mehrfach auf den Titel angesprochen worden. Was ist weißer Feminismus? Und wieso canceln? Genau das wollen auch die Moderatorinnen Anke Schleper und Camila Salomé Alvarez Rendón zum Einstieg wissen.

Laut Schick gehe weißer Feminismus von einer »Norm-Frau« aus und schlage für diese politische Maßnahmen vor. Das Ziel: Die Norm-Frau soll dieselben Privilegien genießen wie der »Norm-Mann« – auf Kosten anderer marginalisierter Menschen. Dabei verfehle der Feminismus jedoch sein Ziel. Er übersehe, dass Schwarze Frauen, aber beispielsweise auch lesbische Frauen oder Frauen mit einer körperlichen Beeinträchtigung mehrfach diskriminiert würden und deshalb insbesondere auf Unterstützung angewiesen seien.

Wer darf in unserer Gesellschaft wütend sein?

Als Beispiel für weißen Feminismus nennt sie den modernen radikalen Feminismus, dessen Vorzeige-Feministin wohl Alice Schwarzer sein dürfte. Sibel Schick geht dabei auf die Mechanismen ein, die in Diskursen genutzt werde würden, um Erfahrungen und Perspektiven Schwarzer Frauen und anderer Minderheiten weniger Gewicht zu verleihen. Oft würde ihnen Spaltung vorgeworfen, sagt Schick. So sagte beispielweise die Philosophin Susan Neiman im Interview mit der Autorin Alice Hasters für die Zeit, dass in der »woken Linken« Herkunft mehr wiegen würde als das politische Argument. Dadurch werde die Bewegung gespalten. Für Schick ist das ein Fall von Machtumkehr: Zunächst sei es überlebenswichtig, dass Minderheiten ihre Erfahrungen hervorheben. Sie selbst hätten jedoch gar nicht die Macht, eine Spaltung herbeizuführen. Im Umkehrschluss führe aber der alleinige Vorwurf zur eigentlichen Spaltung und verhindere jedes Gespräch. Dadurch werde marginalisierten Gruppen die Verantwortung für eine Spaltung in die Schuhe geschoben und im gleichen Zug würden bestehende Machtverhältnisse unterstützt. Somit profitierten im Fall von feministischen Bewegungen weiße mittelständige cis-hetero Frauen. »Was muss man machen, um eine Vorzeige-Feministin wie Alice Schwarzer zu sein? Bloß keine zu große Bedrohung für gesellschaftlich bestehende Machtverhältnisse werden«, sagt Schick lächelnd.

In den Auszügen, die Schick im Laufe des Abends liest, geht es nicht nur um weißen und intersektionalen Feminismus als Bewegungen, sondern auch um Privilegien wie wütend werden, wählen gehen und Norm-schön sein. Auch wenn die Themen meist auf einer abstrakteren Ebene verhandelt werden, gibt es hier und da lebendige Unterbrechungen. Zum Beispiel durch den »Oben-ohne-Paul«, der auf Schicks Beobachtungen basiert: Ohne Eile und Oberteil plant er für alle gut sichtbar seine nächste Route in der Leipziger Boulderhalle. Ob er sich darüber bewusst ist, dass er etwas tut, was anderen nie im Traum einfallen würde? »Wir sind nicht alle gleich und das ist in Ordnung« – so heißt auch das erste Kapitel von Schicks Buch – »doch wir müssen uns darüber bewusstwerden, dass manche Menschen unter weiteren Marginalisierungen leiden und dadurch in ihrem Handeln eingeschränkt werden«, erklärt Schick. Wer ist gerne ein »Oben-ohne-Paul« und wer nicht? Wer darf in unserer Gesellschaft wütend sein und wer nicht?

»Canceln« mag auf den ersten Blick polemisch klingen, doch es wird deutlich, dass Schick in ihrem Buch die inhaltliche Auseinandersetzung sucht. Dabei zerlegt sie nicht nur aktuelle politische Debatten in ihre Einzelteile und erklärt die Mechanismen dahinter, sie wirft auch einen Blick auf die Geschichte des Feminismus und zeigt auf, dass es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts schwarze Feministinnen gab und somit weiße feministische Bewegungen schon damals intersektionaler hätten denken und handeln können. Laut Schick sei es daher damals wie heute eine Entscheidung, wie man Feminismus verstehe und ob man alle bestehenden Machtverhältnisse mitdenken wolle.

> Sibel Schick: Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss. Frankfurt am Main: S. Fischer. 256 S., 25 €

Transparenzhinweis: Sibel Schick hat von 2020 bis Ende 2022 beim kreuzer als Social-Media-Redakteurin gearbeitet.


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