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Politik

»Wir leben hier nicht in Angst«

Für den Wahlkampf im ländlichen Raum verstärken Parteien ihre Sicherheitsvorkehrungen in den Kreisverbänden - Bedrohungen und Vandalismus sind aber kein neues Problem

  »Wir leben hier nicht in Angst« | Für den Wahlkampf im ländlichen Raum verstärken Parteien ihre Sicherheitsvorkehrungen in den Kreisverbänden - Bedrohungen und Vandalismus sind aber kein neues Problem  Foto: Charis Mündlein

Montagabend in Wurzen: Letzte Sonnenstrahlen erreichen den Marktplatz, vereinzelt sind Menschen zwischen Eiscafé, Rossmann und den Bänken um den Ringelnatz-Brunnen unterwegs. Später tummelt sich an der benachbarten Bank eine Gruppe der Freien Wähler, eine Frau verteilt an die anderen zehn den neuen Freie Sachsen-Infoflyer. »Der ganze Stammtisch ist da, ich wusste nicht, dass die sich heute hier versammeln«, kommentiert Rainer Schmitt. Der 75-jährige ist Vorstand des SPD Ortsvereins Wurzener Land, sichtbar trägt er seine rote SPD-Brosche an der Jacke. Trotzdem wird auch ihm ein Flyer angeboten, ablehnend hebt er die Hände.

»Die trage ich jetzt aus Solidarität, ich zeige Fahne, seitdem der Herr Ecke da umgehauen worden ist. Das war schon mehr als heftig.« Anfang Mai wurde der SPD-Europakandidat Matthias Ecke beim Plakate-Aufhängen von mehreren Jugendlichen attackiert und niedergeschlagen, erlitt dabei mehrere Knochenbrüche im Gesicht. Die Polizei geht von einem rechtsextremen Tathintergrund aus. Hier in Wurzen seien persönliche Angriffe auf Wahlhelfer bei der SPD aber nicht festgestellt worden: Zwar seien in der Vergangenheit Wahlplakate heruntergerissen worden und an Straßenständen kämen blöde Kommentare, aber das gehöre dazu, mit sowas müsse man rechnen, erzählt Schmitt.

Gewalt im Wahlkampf ist kein neues Phänomen

Zerstörte Wahlplakate sind auch Thema bei der Linken in Wurzen. Und der Schwund würde mit den Jahren immer größer werden, berichtet Linken-Stadtrat Jens Kretzschmar. In Zukunft würden sich Kleinplakate für den Wahlkampf wohl nicht mehr rechnen, wenn die Hälfte davon beschädigt werde: Am Wurzener Bahnhof habe er letztens schon wieder neue Plakate aufhängen müssen. Dass man sich hierbei auch in Gefahr begebe, ist für den Erzieher nicht neu – Plakatieren gehe man beim Ortsverband schon lange nicht mehr allein: »Irgendwie müssen die Plakate ja noch ins Auto passen, sonst würde ich gern noch eine vierte Person mitschicken«. So wundert sich Kretzschmar, dass sich die SPD nach dem Angriff in Dresden so überrascht gezeigt habe: »Matthias Ecke hat natürlich unsere volle Solidarität. Aber all das hat auch in den vergangenen zwei Landtagskämpfen so stattgefunden, das läuft seit zehn Jahren so.« Demnach seien in der Vergangenheit immer wieder Personen aus dem Kreisverband der Linken angegriffen worden, Kretzschmar spricht von Autoverfolgungsjagden und »skrupellosen« Angreifern.

Auch Björn Sitte, Kreisvorsitzender der CDU in Nordsachsen, wundert sich etwas über die aktuelle Debatte. Für ihn stellte bereits der Mordanschlag auf Walter Lübcke 2019 eine Zäsur dar. Bereits damals habe es eine breite Debatte um Gewalt gegen Lokalpolitiker und Lokalpolitikerinnen gegeben, die in den letzten Jahren wieder eingeschlafen sei. In diesem Jahr habe der Landesverband der CDU Handlungsempfehlungen zum Wahlkampf an seine Kreisverbände geschickt. Gelesen habe Sitte die bisher nur zum Teil. Generell nehme er wahr, dass sich im Wahlkampf in Sachsen vor allem der Frust auf die Ampelparteien niederschlage. Während Plakate der CDU größtenteils noch hingen, würden vor allem die von Grünen, SPD und auch Linken zum Ziel von Vandalismus. Wie Parteien sich den Umständen im Wahlkampf anpassen können, das hängt vor allem auch mit ihren personellen Möglichkeiten zusammen.

Großes Engagement in Nordsachsen

Zwischen zwei Funklöchern bei Torgau spricht Heiko Wittig in die Freisprechanlage seines Autos. Wittig ist seit 30 Jahren für die SPD in Nordsachsen aktiv, leitet den Wahlkampf seiner Partei in der Region. Seine Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer erlebt er hochmotiviert: »Die waren noch nie so stark am Ball wie in diesem Jahr.« Menschen engagierten sich, weil sie die »Demokratie wahren wollen«, viele würde die Sorge vor einem »rechtskonservativen Ruck« motivieren. Während es für die SPD im Landtagswahlkampf ums Überleben gehe, sieht sich Wittig bei den Kommunalwahlen im Wettstreit um Platz zwei. Zusammen mit den Grünen will er weiterhin die zweitstärkste Fraktion im Kreistag stellen. Dass neben der AfD auch die Freien Sachsen in den Kreistag einziehen, davon geht Wittig aus. Die Frage sei nur: Wie weit sind die Rechtsextremen dann noch von einer beschlussfähigen Mehrheit entfernt? Wittig ist sich sicher, dass CDU und Freie Wähler im Zweifel der AfD zu Mehrheiten verhelfen könnten: »Die AfD wird deshalb vermehrt beantragen, Entscheidungen in geheimen Abstimmungen zu treffen.«

Um rechte Mehrheiten zu verhindern, setzt die SPD vor allem auf Masse. Für den nordsächsischen Kreistag stellen die Sozialdemokraten mit 120 die mit Abstand meisten Bewerberinnen und Bewerber. Ähnlich sieht es in den Städten und Gemeinden aus. Stadtbekannte Namen stehen da auf den Wahllisten der SPD, Landärztinnen und Vereinspräsidenten. Zwei Drittel der Kandidierenden für die SPD seien keine Parteimitglieder, sagt Wittig. Viele, die jetzt für die SPD kandidieren, hätten sich vielleicht auch von anderen Parteien aufstellen lassen, wenn die früher gefragt hätten. »Da muss man einfach aus der Falte kommen, rausgehen und die Menschen ansprechen«, sagt Wittig stolz. Am Ende käme es vor allem darauf an, ob die Menschen am Ende Persönlichkeiten wählten oder ihrem Frust das Kreuz überließen.

Grüne Einzelkämpfer in Eilenburg und Borna

Während die Wählvereinigung Nordsachsen – früher Freie Wähler – immerhin noch 93 Kandidierende zum nordsächsischen Kreistag stellt und die CDU 89, sind es bei AfD (33), Grünen (26), Linken (19), Freie Sachsen (19) und FDP (18) deutlich weniger. Auf den Listen für die Parlamente in Städten und Gemeinden sieht es teilweise noch bescheidener aus: Kai-Uwe Tüchler ist der einzige Kandidierende der Grünen in Eilenburg, die auch in Torgau oder Naundorf nur einen Namen bei den Wahlen auf den Zettel gebracht haben. Tüchler, der sich zum ersten Mal parteipolitisch engagiert, muss mit Freundinnen und Freunden plakatieren gehen. Obwohl sie dabei angepöbelt wurden, will sich Tüchler nicht einschüchtern lassen: »Flyer werde ich auch allein verteilen.«

Ähnlich geht es auch Richard Müller in Borna. Für ihn ist es der erste Wahlkampf seines Lebens und er ist seit gut zehn Jahren der erste Kandidat von den Grünen, der in den Stadtrat einziehen will. Dafür hängt er Plakate auf oder sucht auf dem Marktplatz das Gespräch mit den Leuten. So weit, so normal. Nur der Haustürwahlkampf findet derzeit nicht statt. In Anbetracht der Lage habe die Partei entschieden, dass nur Teams von mindestens vier Personen an den Türen klingeln sollten. Und dafür fehlen den Grünen in Borna zurzeit die Leute, wobei sie sich bemühen, noch Engagierte dafür zu finden. Dass er derzeit nicht an Haustüren klingeln kann, sei natürlich sehr schade, aber insgesamt fühle er sich in seiner Stadt sicher: »Klar, es werden viele Plakate zerstört, aber das höre ich aus anderen Städten viel öfter als aus Borna. Hier sind eigentlich alle sehr höflich und zurückhaltend, auch wenn sie die Grünen nicht mögen.« Jetzt freue er sich darauf, nach all den Jahren den Menschen vor Ort wieder das Angebot zu machen, einen Grünen in den Stadtrat wählen zu können.

Unter den Kandidierenden in Borna herrscht den derzeitigen Schreckensmeldungen zum Trotz generell größtenteils Gelassenheit. So berichtet Nadja Luedtke (Linke) zwar von abgerissenen Plakaten, das sei aber nicht neu. Angriffe erlebten die Kandierenden der Linken, derzeit die stärkste Fraktion im Stadtrat, nicht. Stattdessen gingen die Menschen größtenteils respektvoll mit ihnen um. Aber das politische Klima sei rauer geworden in den letzten Jahren, vor allem seit dem Aufstieg der AfD. Die körperlichen Angriffe der letzten Wochen seien natürlich schrecklich und zu verurteilen, wie sie gerade in Bezug auf den Fall des Matthias Ecke aus Dresden feststellt. In Borna jedoch sei die Lage ruhiger: »Wir leben hier nicht in Angst.«


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