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Kafka in Liberec. In Reichenberg

von Jaroslav Rudiš

  Kafka in Liberec. In Reichenberg | von Jaroslav Rudiš  Foto: Ardon Bar-Hama / The Literary Estate of Max Brod

In Liberec, im einstigen Reichenberg, hatte ich mal eine Tante, Tante Kafková. Eigentlich war sie meine Großtante, doch trotzdem nannte ich sie Tante.

Tante Kafková wohnte in einem alten Mehrfamilienhaus. Als junge Frau war sie nach Liberec gekommen, erst nach dem Zweiten Krieg, mit ihrem Mann, Herrn Kafka. Herr Kafka und meine Tante waren nicht lange zusammen. Die Ehe wurde schnell geschieden und ich kann mich nicht erinnern, ob ich Herrn Kafka überhaupt kennengelernt habe, wahrscheinlich nicht. Niemand sprach über ihn. Man hat ihn ausgeblendet.

Tante Kafková hat schnell wieder geheiratet und doch ist ihr der Name Kafková geblieben. Ein Geheimnis. Eines der vielen Geheimnisse, die sich in meiner Familie und in der Stadt Liberec verstecken.

Natürlich waren die Kafkas aus dem nordböhmischen Liberec nicht verwandt mit der Familie des weltberühmten Schriftstellers aus Prag. Als Nachname ist Kafka in Tschechien bis heute sehr verbreitet. Manchmal wird der Name auch Kavka geschrieben. Die Aussprache bleibt jedoch gleich. »Am Ende wird aus jedem Kavka ein Kafka und aus jedem Kafka ein Kavka«, sagt ein Freund von mir. Die Bedeutung bleibt auch gleich. Kavka ist ein Vogel. Eine Dohle, manchmal auch Turmkrähe genannt, die man allerdings sehr oft mit einem Raben oder einer Krähe verwechselt, mit einem Havran oder mit einer Vrána. Beide Vogelarten sind auch verbreitete tschechische Nachnamen.

Im riesigen Garten der Tante Kafková, die nicht weit von dem damals geschlossenen jüdischen Friedhof lebte, trafen sich alle Vögel: Dohlen, Raben und Krähen. Das Haus war sehr groß, fast wie ein Schloss. Mit meinem Bruder gingen wir oft in diesem Schloss verloren. Wir untersuchten den Keller. Wir untersuchten den Dachboden. Wir fanden alte Gläser, Flaschen und Konserven und deutschsprachige Bücher und Postkarten. Damals wussten wir nicht viel von der wechselvollen Geschichte der Stadt und des Landes. Nicht viel von dem Krieg, dem Holocaust und der Vertreibung. Als Kinder wussten wir nur, dass alle Deutschen sehr böse waren.

Soweit ich weiß, hat meine Tante nicht viel gelesen. An die Bücher in der Wohnung kann ich mich nicht erinnern, nur an die Illustrierten auf dem Tisch im Wohnzimmer. Dass es mal einen Schriftsteller Franz Kafka in Prag gab, wusste sie mit Sicherheit nicht, so wie viele damals. Aus dem Land hat man nach 1945 nicht nur die Deutschen vertrieben, sondern auch die ganze deutschsprachige Kultur und Literatur, die in Böhmen entstanden war. Egal, wer die Bücher geschrieben hatte, alle waren gleich schuld. Statt Deutsch wurde Russisch zur ersten Fremdsprache, die man in der Schule lernte. Erst viel später wurde mir klar, dass dies das versuchte Russifizieren des Landes war.

Tante Kafková war eine nette Dame. Eine Backexpertin. Eine Kuchen- und Strudel- und Tortenfrau, die manchmal von Wien erzählt hat, obwohl sie nie dort war. Oder doch? Sie lebte weiter mit ihrem zweiten Mann in diesem geheimnisvollen großen Schloss mit sehr vielen kleinen Zimmern in dieser geheimnisvollen großen Stadt Liberec, im einstigen Reichenberg, wo man an den alten Fassaden immer wieder die deutschen Anschriften aus der Vorkriegszeit sah, was mich schon als Kind faszinierte und mir ein wenig Angst machte. Denn das kannte ich aus dem tschechischsprachigen Böhmischen Paradies nicht.

Franz Kafka musste die Stadt gut kennen. Oft, wenn ich heute am Bahnhof bin, stelle ich es mir vor, wie er im Winter 1911 aus Prag mit dem Schnellzug nach Liberec kommt. Die Bahnreise über Mladá Boleslav und Turnov dauert genauso lange wie damals. Der Zug muss auch über die Berge klettern und viele Kurven ziehen.

In seinem Tagebuch beschreibt Kafka eine solche Fahrt nach Reichenberg. Und die Fahrgäste im Coupé. Ein Mann beschwert sich, dass der Zug zwar ein Schnellzug sei, aber das erkenne man nur daran, dass er teurer sei als ein Personenzug. Der andere Passagier liest die ganze Zeit Zeitungen, der nächste isst hastig Schinken, Brot und Würste. Und ein Mann trinkt viel Wein, den er sich bei einem Zwischenhalt gekauft hat. Vermutlich in Turnov, denn hier musste der Zug immer die Richtung und die Lokomotive wechseln. Noch vor Kurzem konnte man sich in Turnov während des Aufenthalts am Bahnsteig in einem Buffet mit Bier, Wurst, Wein und Schnittchen eindecken.

Kafka würde Liberec wiedererkennen. Zum Glück wurde die Stadt im Krieg nicht zerstört und die Platten baute man vor allem am Stadtrand. Das mächtige Rathaus kann den kleinen Marktplatz ganz überschatten, so wie damals, als der Schriftsteller es beobachtete und darüber schrieb. Die Wiener Straße heißt jetzt Moskevská, also Moskauer Straße, was viele Bürger der Stadt ärgert, denn im August 1968 haben die Sowjets auf dem Marktplatz neun Menschen erschossen. Die Straßenbahn fährt heute nicht mehr durch die Moskauer Straße, die Strecke hat man verlegt. So fährt die »Elektrische« auch nicht durch die Schückerstraße, die jetzt Pražská, also Prager Straße, heißt. Das Haus, das früher das Hotel Eiche war, in dem Kafka übernachtete, steht noch. Das vegetarische Restaurant, in dem er war, wie man dort erzählt, gibt es auch noch.

Natürlich konnte Kafka auch ins Theater gehen, in dem er gleich dreimal hintereinander war, wie in seinem Tagebuch steht. Mittlerweile kehrt dort auch die deutsche Sprache zurück. Wenn eine Oper aufgeführt wird, dann immer auch mit deutschen Untertiteln. Ins Theater kommen viele Zuschauer aus der nahen Oberlausitz.

Aus Reichenberg musste Kafka weiter mit der Eisenbahn nach Frýdlant v Čechách, nach Friedland in Böhmen. Oder nach Jablonec nad Nisou, nach Gablonz. Hier überall hielt Kafka offenbar auch Vorträge. Nicht über seine Literatur, sondern als Beamter der Arbeiter-Unfallversicherung.

Kafka referierte über die versicherungs- und verwaltungstechnische Einteilung der Betriebe in verschiedene Gefahrenklassen. Da die Neueinteilung zugleich auch höhere Kosten für die Gewerbetreibenden verursachte, tat er das zumeist vor einem Publikum, das, nun ja, not amused war. Wahrscheinlich kam ihm hier ein ähnlich eisiger Wind entgegengeweht wie dem Landvermesser K. bei all seinen Versuchen, das Schloss zu erreichen.

Möglicherweise klärte er das Fachpublikum auch noch darüber auf, wie man sich bei der Arbeit besser schützen kann, zum Beispiel bei der gefährlichen Bedienung einer Hobelmaschine. Darüber hat er sogar einen Beitrag verfasst: »Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen«. Bebildert mit mehreren sehr realistischen Zeichnungen aller möglichen Unfälle. Wenn man es sieht und liest, versteht man gleich die Erzählung »In der Strafkolonie« besser. Eine Hobelmaschine wirkt nicht weniger gefährlich als die Apparatur aus dieser Geschichte, die einem verurteilten Menschen das Urteil in den Körper einsticht, so zumindest die Funktion des Apparats, bis dieser stirbt.

Liberec ist eine nebelige Stadt. Das hängt mit der geografischen Lage zusammen. Liberec liegt in einem tiefen Tal. So bleiben die Wolken dort hängen. »Wenn es nicht regnet, dann kommt der Regen. Wenn es nicht schneit, dann kommt der Schnee«, wie man hier sagt. Ja, auf dem Hausberg Ještěd kann es manchmal auch im Hochsommer passieren, so wie im Isergebirge und Riesengebirge, so wie es auch Kafka in seinem verschneiten Roman »Das Schloss« schildert.

Ein Spaziergang durch Liberec kann genauso spannend sein wie die Lektüre dieses Buches. Auch in Liberec steht natürlich ein Schloss. Doch wo in Böhmen gibt es in einer Stadt, egal wie groß sie auch sein mag, nicht ein Schloss, eine Burg oder zumindest eine winzige Burgruine? An vielen Orten in Böhmen glaubt man, dass es ihr Schloss war, das Kafka inspiriert hat. Vor allem in Frýdlant. Und in Prag sowieso.

In den steilen Gassen von Liberec geht man schnell verloren, so wie auch in Kafkas Schneeroman und in der nicht immer leichten deutsch-tschechischen Geschichte des Landes. Der Schnee, der dem Landvermesser K. den Weg zum Schloss, ja, fast jeden Schritt schwer, ja, fast unmöglich macht, wiegt schwer wie ein Gang durch die Geschichte.

Liberec war die deutschsprachige Metropole von Böhmen. Eine reiche und moderne Stadt. Die Textilindustrie blühte, die Glasindustrie auch, die Reichenberger Zeitung hat man bis nach Prag gelesen, das Stadttheater war auch im ganzen Land bekannt und lockte Stars des deutschsprachigen Theaters hierher. Doch es haben in der Stadt auch viele tschechischsprachige Böhmen gelebt. Und neben Protestanten und Katholiken auch viele Juden. Leider war Reichenberg kurz vor dem Zweiten Krieg auch eine sehr düstere Stadt, in der die Anhänger von Konrad Henlein, dem Wortführer der radikalen Sudetendeutschen Partei, immer mehr das Sagen hatten. Nach dem Münchner Abkommen 1938 haben die Nationalsozialisten die Tschechen vertrieben und die alte Synagoge abgebrannt. Im Haus gleich gegenüber war dann der Sitz der Gestapo. Nach dem Krieg folgte dann die tschechische Rache und Vertreibung.

Heute steht an dem Ort der Synagoge die neue Bibliothek, in der ein Teil eine kleine Synagoge beherbergt. Ein Bau der tschechisch-deutschen Versöhnung, in dem man Kafka nicht nur auf Tschechisch, sondern auch auf Deutsch lesen kann.

Schade, dass der zweite Mann der Tante Kafková den Text »Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen« nicht gelesen hat. Im Sägewerk hat er zwei Finger verloren, so wie viele, die im Sägewerk gearbeitet haben und heute noch arbeiten. Vielleicht sollte man den Text ins Tschechische übersetzen, verlegen und in allen Fabriken in der Gegend verteilen.


Jaroslav Rudiš lebt als freier Autor in Berlin und Lomnice nad Popelkou. Der 1972 im Böhmischen Paradies Geborene ist der einzige Nicht-Leipziger in dieser Runde, wobei er enger Freund des Hauses kreuzer ist, in dem 2022 sein »Trieste Centrale« erschien, eine Nebenfrucht seines für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans »Winterbergs letzte Reise«. Rudiš tourt dieser Tage mit seiner Kafka Band in Österreich und Tschechien.


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