»Verdammt, ich bin sprachlos. Und gerade jetzt, das bin ich sonst nie.« Charlotte Bauer einmal sprachlos zu erleben, allein dafür hätte sich der Besuch der Universitätsbibliothek vergangenen Freitag gelohnt. Vor vollem Haus wurde die Verabschiedung der Vize-Chefin in den Ruhestand gefeiert – nach 32 Jahren Wirken für die Universität, davon 25 Jahre als zweite Spitze. Man konnte sich im Westflügel der Bibliotheca Albertina mit eigenen Augen vergewissern: Ohne die resolute Frau wäre Leipzigs Bibliothekslandschaft eine andere.
»Liebenswürdige Penetranz« (Direktorin Anne Lipp) machte bald als geflügeltes Wort des Abends die Runde. Diese Eigenschaft Bauers, beharrlich, aber charmant auf ihrem Punkt zu bestehen, bekräftigten bei der Verabschiedung ehemalige Direktoren, aktuelle Mitarbeitende, (Ex-)Rektorinnen, Studierende, Menschen aus dem Senat, der Akademie der Wissenschaften und viele andere Anwesende. Die Beschreibung passt wie die Faust aufs Auge: Hatte Charlotte Bauer eine Idee, wurde sie umgesetzt. Koste es, was es wolle – vor allem die Kraft jener, die sich nicht sofort begeistert oder veränderungswillig zeigten. Auf- und Umbau waren ihre Themen, das ging auch gar nicht ohne Energie. Allein in den frühen Neunzigern musste Bauer 60 Lesestandorte auf 12 konzentrieren, als Leipzigs Hochschulen zusammengefasst wurden.
Die im Westflügel der Universitätsbibliothek Versammelten können sich am historischen Ort – sozusagen – noch einmal der Arbeit Bauers versichern. Als sie in der Bibliothek anfing, war dieser Ort noch ein nicht-überdachter Hof, ruinös, mit Kohlehaufen belegt und von Birken bewachsen. Hier war eine Wüstung, der Ostflügel stand gar nicht mehr. Schwer vorstellbar, wie damals überhaupt ein Bibliotheksbetrieb bewerkstelligt werden konnte. Auch das würdigt Bauer zwischendurch. Sie wirkte maßgeblich mit an der Rekonstruktion und Neugestaltung der Wissensmaschine in der Beethovenstraße. Die Campus Bibliothek – sie trägt nicht nur Charlotte Bauers Initialen, wie ein Redner witzelnd bemerkt – sondern auch ihre Handschrift, mehrere weitere Bibliotheksbauten ebenso. »In aller Unbescheidenheit behaupte ich, dass ich in Deutschland die Bibliothekarin bin, die am meisten gebaut hat«, sagte sie mal dem kreuzer.
Bauer legte sich mit dem Wissenschaftsverlag Elsevier an. Aufgrund von Knebelverträgen belieferte er Bibliotheken mit Wissenschaftsjournalen, in denen von öffentlichen Geldern finanzierte Wissenschaftler publizierten. Bis zur Hochschulrektorenkonferenz brachte Bauer das Thema, blieb hartnäckig, bis es nach zehn Jahren zu einem besseren Deal mit dem Verlag kam. Selbstverständlich ist Bauer eine frühe Verfechterin des Open-Access-Prinzips. Und immer wieder sagte sie, sie habe doch nur ihren Job gemacht. So auch bei ihrer Verabschiedung: »Ich muss mich bedanken. Ich hatte das unglaubliche Privileg, einen Job auszuüben, der so viel Freude machte und Inspiration beinhaltete.«
Ein ausgeliehenes Buch hat sie nach Selbstaussage noch nie zu spät zurückgegeben. Das versicherte Bauer im vergangenen Jahr im großen kreuzer-Interview. Darin erzählt die 1958 in Görlitz Geborene auch von ihrer Liebe zu Leipzig. Hierher kam sie nach dem Studium als Diplomsprachmittlerin für Russisch und Polnisch 1980, arbeitete zunächst an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK). Nach der Wende kam sie 1991 an die Universitätsbibliothek, erst als Leiterin der Zweigstelle am Augustusplatz, ab 1999 als Vizedirektorin. Immer war ihr die Perspektive der Nutzenden wichtig. Daher hat sie neben der Digitalisierung, Anschaffung von Rückgabeautomaten, um das Personal mit Wichtigerem betrauen zu können, auch die Garderobenpflicht abgeschafft und sich um die Sitzmöbel gekümmert. »Sitzplätze sind ein wesentliches Momentum, wenn man sagt, Bibliotheken sind die entscheidenden Arbeitsorte für Studierende«, so Bauer. »Jeder hat andere Bedürfnisse, der eine steht, der andere sitzt leidenschaftlich auf einem Sitzsack, der nächste will auf einem Laufband laufen. Die Diversität von Arbeitsplätzen ist ein wesentlicher Faktor.« Denn: »Wir bauen Bibliotheken für Menschen, nicht wie früher für Bücher.«
Dafür bekommt Bauer bei ihrer Verabschiedung nicht nur überschwänglichen Applaus. Auch ein Porträt, gefertigt vom Leipziger Maler Hartwig Ebersbach, wird ihr überreicht. Es soll in der Albertina auf ewig an Charlotte Bauers Wirken erinnern. Und daran, wie die liebenswürdig-penetrante Frau sprachlos war – einmal.