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Rosakäfer

von Ulrike Draesner

  Rosakäfer | von Ulrike Draesner  Foto: Ardon Bar-Hama / The Literary Estate of Max Brod

Als Rosa Maregg am Morgen nach unruhigen Träumen erwachte, lag sie auf dem Rücken, fest in ihrem Bett, einem niedrigen Futon, und fand sich in der angenehmen Lage, sich leicht von einer Seite zur anderen schaukeln zu können. Wie ein Kind im Maxi-Cosi schloss sie die Augen. Erst als das Weckklingeln des Handys ungewöhnlich lange ausblieb, öffnete sie erneut die Lider. Das Schaukeln endete abrupt. Sie hob den Kopf und sah einen gewölbten, braunen Bauch.

Die Bettdecke reichte nur mehr mit einem Zipfel über die groteske Rundung. Rosa wollte lachen. Was hatte sie gestern Abend gegessen? Lachen ging nicht. Konnte sie schwanger sein? Aber das gab es doch nicht, dass einem über Nacht ein Fünfmonatsbauch wuchs. Wie dünn ihre Beine nun aussahen, im Vergleich. Nun weinte sie. Dünnere Beine hatte sie sich seit ihrem zehnten Geburtstag gewünscht.

So beginnt meine Erzählung »Rosakäfer« – Kafkas »Verwandlung« heute, mit umgekehrten Rollen: Aus Gregor Samsa wird Rosa Maregg. Gregors Schwester hat sich verwandelt in Bruder Reiner, 14-jährig, netzaffin, mit einer genialen Idee: #Rosa. Live-Cam ins Käferleben, »das Monster unter uns«: Fütterungen und Interviews. Reiner, der beste Käferflüsterer der Republik. Nach 14 Tagen im viralen Rausch und bereits um viele Tausend Euro reicher, packt Familie Maregg Rosa in einen Käfig und macht sich auf den Weg zum nächsten medialen Höhepunkt:

Als Reiner den Käfig auf den Tisch stellte, sog die Visagistin anerkennend Luft durch die Vorderzähne. Hier würde Haarlack helfen. Einmal über den Panzer. Mittendrin ging das Spray aus, doch Thorsten, dessen Maske schon fertig war, kam auf die Idee, mit Schuh-Imprägnierer weiterzumachen. Auch bei diesem Sprühen am Hinterleib hielt Rosa vortrefflich still; sie bekam aber keine Luft mehr.

Erst im Studio wurde ihr das Atmen wieder möglich. Sie saß frei auf einem Sessel, der kaum von den anderen abgerückt war, und zeigte zierlich das rosa Band an ihrem vordersten rechten Bein, indem sie es anhob. Thorsten, ununterbrochen »der Vater« genannt, berichtete als Erstes. Die Assistentin des Moderators ließ ein zartes Lächeln über ihren zarten Knochen spielen und hielt Rosa eine Möhre hin. Ein Zoologe wippte herein. Der Mann, frisch gekämmt, kleiner Bart, versuchte eine Bestimmung des Käfers. Nach einigen Minuten gab er auf. Die Größenverhältnisse stimmten nicht. Das Publikum lachte.

»Wir würden Ihnen gern glauben, dass dieses Wesen Ihre Tochter ist«, sagte der Moderator mit glitzernden Zähnen.

»Ist der Käfer überhaupt weiblich?«, wollte die Assistentin wissen.

Der Moderator schüttelte die dichten braunen Locken. »Glaubenssehnsüchtig«, flüsterte er, »glaubensbereit sind wir. Heiß darauf! Aber wie sollen wir zu diesem Glauben kommen?«

»Genprobe«, sagte Thorsten ruhig. Man hatte ihn entsprechend gebrieft. Eine Genprobe aus dem Käfer, eine aus ihm und seiner Frau. Es schien eine spontane Idee. Dann werde man die Verwandtschaft sehen. Und das Käfergeschlecht.

»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte der Moderator. Rosa warf empört die Fühler in die Luft. Der Moderator lachte: »Kille kille, Böckchen!«  Die Assistentin sprang auf und wackelte vor Rosas Kopf mit dem Po, das Publikum schnalzte mit den Fingern. Ein Mann in weißem Kittel stand auf der Bühne, extragroße Nadel in der Hand.

Da Rosa sich nicht äußern konnte, erklärten die Eltern Rosas Einverständnis. Ein Papier war vorbereitet, in dem exakt bedacht wurde, dass Rosa als Mensch behandelt werde, in Käfergestalt. Dazu Rosas voller Name: Rosa S. Maregg. Das war aus juristischen Gründen wichtig, sonst galt die Wette nicht. Der Moderator setzte 10.000 gegen die Familie. In Sekundenschnelle wuchs um Rosa ein Käfig aus dem Boden, er umfasste den Stuhl, schnurrte oberhalb von Rosa wieder zusammen, fuhr exakt zwischen Käfer und Sitzfläche einen Gitterrost aus, wie man ein Stück Papier unter eine im Glas gefangene Wespe schiebt. Rosa fand sich angehoben; der weitmaschige Rost rüttelte, bis all ihre verbliebenen Beinchen in Löcher gerutscht waren. Plump und schwer lag sie innerhalb einer Minute auf dem Bauch. Ein Designkäfig. Er fuhr ein letztes Stück in die Höhe.

Der Arzt stellte sich bequem unter die Maschen und stach in die Fuge zwischen Brust- und Mittelleibsegment. Rosa spürte die Nadel kalt und tief. Sie wollte schreien, aber nur das Maul ging auf.

»In zwei Wochen sehen wir uns wieder«, rief der Moderator. Familie Maregg trug den Käfer Rosa im alten Käfig selbst hinaus.

In der Wohnung klingelte nun ständig das Telefon. Mutter und Vater verfügten über je einen eigenen Apparat und zwei Handys. Der family value war, wie von Reiner vorhergesagt, immens gestiegen. Magazine, Tageszeitungen sowie weitere Fernsehsender riefen an und gaben Gebote für Exklusivrechte ab. Juristen meldeten sich, die zu den Exklusivrechten beraten wollten. Dann PR-Leute und Personal Coaches. Reiner, der bekannteste Blogger des Landes, hatte bereits am Morgen nach der Sendung mehrere neue Computer gekauft und zwei der Koreanerinnen angestellt, für ihn zu tippen. Auf ihre asiatische Fangemeinde, sagte Reiner, könne Rosa nicht verzichten.

Mit T-Shirts und »Rosa lebt«-Kappen aus der Sendung saßen die Mensch-Mareggs da. Als man Rosa aus dem Käfig ließ, hängte sie sich an die Decke. Durch langsames Strecken holte sie dort oben etwas leichter Luft. Noch immer verklebte das Spray ihre wichtigsten Atemöffnungen und manchmal geschah es, dass sie zu ihrer eigenen Überraschung von ihrem Ruheplatz auf den Boden stürzte; sie war aber empfindungsloser geworden, es machte ihr nichts.

Ein als Monteur verkleideter Chauffeur des Senders holte die Familie ab. Höchste Sicherheitsstufe. Erst musste Claudia in die Maske, dann kamen die Männer. Reiner nahm etwas Lippenstift. Der Moderator federte herbei, begrüßte jeden mit Handschlag. Auf seiner Brust blitzte ein Button: beagle me up.

Diesmal saß man um einen Tisch, nur Rosas Käfig thronte auf einem Podest daneben, die Kameras konnten ihn frei umkreisen. Man plauderte, bis der Laborexperte zur Runde stieß: Die Zellproben hatten ergeben, dass Rosa ein ganz normaler Käfer war. Weiblich, das stimmte, sagte aber nichts.

Der Moderator blickte finster. Obwohl er die Wette gewonnen hatte. Aber er wollte nicht gewinnen, nicht, wenn er auf plumpeste Weise betrogen wurde.

Das Publikum blieb vor Entsetzen still. Normalerweise lief die Sendung live, diesmal nicht, man hatte gewusst, was kommen würde.

»Wir brechen ab«, sagte der Moderator. So bekamen die Mareggs vor der Ausstrahlung ausreichend Zeit, sich zu verstecken. Der Sender war sich seiner Verantwortung voll und ganz bewusst. Die Leute im Saal erhielten das Eintrittsgeld zurück. Kinder durften einen Plüschkäfer mitnehmen, gratis.

Die Assistentin, genannt »Pip«, weinte in der Maske. Es tue ihr so leid für die Mareggs. Sie hätten es doch gut gemacht. Bis jetzt.

Die Mareggs waren jetzt aber unten durch. »Nationwide«, wie man so sagte.

Elf Tage ging es ihnen dreckig. Reiner wurde vom Schulbesuch befreit. Vier Morddrohungen trafen ein. Sie waren gegen die ganze Familie gerichtet. Mehr gegen die Menschen als gegen den Käfer. Der Käfer wurde nicht erwähnt. Reiner nahm die Computer vom Netz und las den Eltern aus der glorreichen Anfangszeit des Blogs vor: »Sie ging auf mich los, Beine aufgestellt, Fühler voraus. Als ich den Stuhl hob, begriff sie, jedenfalls drehte sie ab.«

Rosa fand sich in ihr Zimmer gesperrt. Sie kroch nur mehr auf dem Boden. Man wollte Rosa nicht sehen. Sie hatte ihnen das eingebrockt. Rosa war kurzatmig, verspürte aber so gut wie keinen Schmerz. Niemand kümmerte sich.

Jeden Tag klebte sie eine Weile an der Tür. Es war ihre Weise, ihre Treue zu zeigen. Zum Deckenkriechen reichte die Kraft nicht. Sie hatte herausgefunden, dass sie, indem sie einen Essenshappen lange im Mund aufnahm, ohne ihn zu zerdrücken, das Gedankenkreiseln in ihrem Kopf einfrieren konnte. Sie hätte sich gern aufgelöst. Früher wäre das gelungen. Es dauerte und dauerte. Oder hatte man sie einfach nicht kompetent genug verletzt? Drei Einstiche, ein zertretener Po, das Spray. Sie bedauerte, dass sie sich zum Einschlafen nicht mehr einkuscheln konnte, wie einst.

Da wurden die Mareggs ein drittes Mal in die Show geladen. Welch Erfolg. Welche Nervosität. Rosa kam in einen Pappkarton mit Luftlöchern, den alten Holzverschlag hatte man bereits entsorgt.

Claudia und Thorsten wurden Sorgenfalten geschminkt. Der Moderator hatte ungeschminkte Falten. Alle bekamen echte Brötchen.

Pip strahlte. Man hatte recherchiert. Die Angaben der Familie, bis auf jene zur Käferidentität, hätten sich bewahrheitet. Sie sagte »bewahrheitet« und es war ein großes Wort. Eine Detektei hatte bestätigt, dass die Mareggs in den vergangenen Monaten nicht weggefahren waren. Woher also sollte GTB (Germany’s Top Beagle) gekommen sein? Das frage man ernstlich. Man wolle keinen Unschuldigen an den Pranger stellen. Daher habe man sie erneut eingeladen.

Die Sendung lief bereits. Rosas einstiger Chef juppte herein und berichtete über Rosa als Arbeitnehmerin. Der Vertreter eines Jobcenters, als Sozialinstitution, saß ebenfalls in der Runde. Wie er sich gekümmert hatte. Dass er die Eltern anrief. Auch der Moderator war bereit, der Mareggschen Version nun Glauben zu schenken, »unseren Glauben, unser Vertrauen«. Allerdings nur im Gegenzug: Man musste etwas Menschliches in dem Käfer finden.

Der Moderator bot allen an, ihn »Moddi« zu nennen.

»Bleibt nur eines«, sagte Moddi. Noch rang er um die Idee. Doch er hatte sie. Deswegen war er der Moderator.

»Wir machen den Herztest.«

Hatte GTB ein Herz?

Die drei Mareggs nickten. Reiner blickte zum ersten Mal frei ins Publikum.

»Ein kleiner Stich ins Organ, nicht ohne Risiko«, gab Moddi zu bedenken. Falls der Käfer keine menschlichen Anteile habe, sei es aber nur Sachbeschädigung.

Man schwieg. Das war überwältigend. Weitreichend.

Rosa lag auf dem Rücken. Sie fand es hell, über sich. Rund um sich warm. Die Eltern sah sie ganz nah. Sie hatten rote Köpfe. Sie hätte sie gern geküsst.

»Überlegen Sie«, rief Moddi. »Morgen sehen wir …«

»Ach was«, sagte Thorsten, »Neugier bringt die Menschheit voran.«

Eine Trommel mit Bingogewinnen blendete sich ein. Rosa wurde abtransportiert. Moddi raunte Claudia etwas ins Ohr, die Worte gingen im Los-Lärm unter. Sie verstand aber, dass sie einen Rückzieher »vergessen konnten«. Sonst verloren sie das Gesicht, endgültig, überall. Sie lächelte ins Publikum.

Man zeigte den OP-Raum. Es war aber nur das Studio nebenan. Ein weiß gekleideter Arzt, die Nadel nicht sonderlich lang. Sanft glitt sie in das Tier. Moddis Telefon klingelte. Fernsehschnell, mit den entsprechenden Veränderungen des Gesichtsausdrucks, überriss er die Lage: »Wir müssen mitteilen …«, sagte er, » … betrübt.«

Kurze Pause. »Doch reinen Gewissens.«

Bis eben hatten sich die meisten Zuschauer den Totalabsturz der Mareggs gewünscht: »Skandal.« »Käferbetrug.« Nun musste man mit der Familie empfinden. Moddi spürte diese heikle, aber auch glückliche Stimmung im Saal. Quotensicher verkündete er, die Mareggs sollten ihr Wettgeld bekommen, egal, wie die Analyse der Zellen ausfalle.

Noch während des Abschminkens rauschte der Applaus. Die Sendeleiterin berichtete, dass die ersten Zoos bereits böten. Die tote Rosa könne ausgestopft werden. Käfer fülle man mit aushärtender Chemie. Selbstverständlich achte man dabei auf höchste Recyclebarkeit. Claudia und Thorsten unterschrieben, dass der Sender mit 15 Prozent Vermittlungsprovision beteiligt werde. »Ja«, sagte Thorsten erschöpft.

Pip war noch rührend, nachträglich bewunderte sie Rosa: »Wie kooperativ sie sich verhielt!«

Trotzdem fanden die Mareggs gerade diesen Auftritt besonders anstrengend. Der Sender beschloss, den dreien eine Helikopterreise über die Stadt zu spendieren, die sie ganz für sich allein machen durften. Noch im Abspann konnte Moddi diese Großzügigkeit ankündigen, so hatten alle etwas davon.

Reiner klemmte sich eine der Koreanerinnen unter den Arm, die unmittelbar aus dem Hubschrauber bloggte und daher nicht als Passagier galt. Beileidsbekundungen, die zum Tod der Schwester eingingen, nervten ihn. Den Helikopter flog eine Frau, bald war die Glaskapsel ganz von warmer Sonne durchflutet. Reiner saß schräg hinter der Pilotin mit freiem Blick auf alles Sehenswerte. Die Eltern hielten sich, hinten auf ihren Rücksitzen, an der Hand. Mit einem kurzen Blick verständigten sie sich über die Freude, die der Anblick des Sohnes in ihnen auslöste: fünf Zentimeter gewachsen, Nike-Schuhe. Und er, als spüre er ihre Träume, dehnte seinen Körper und streckte sich über den Kopf der Pilotin nach vorn.


Ulrike Draesner lebt als Schriftstellerin und Professorin für literarisches Schreiben am DLL in Berlin und Leipzig. Sie wurde 1962 in München geboren, 1995 erschien ihr Debüt, der Gedichtband »Gedächtnisschleifen« (Suhrkamp). Es folgten zahlreiche Romane, Gedichte und Erzählungen. Draesner hat unter anderem zwei Bände der Nobelpreisträgerin Louise Glück übersetzt. Am 11. September erscheint ihr neuer Roman »zu lieben« (Penguin).


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