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Über Kafkas »Amerika« (und anderes)

von Clemens Meyer

  Über Kafkas »Amerika« (und anderes) | von Clemens Meyer  Foto: The National Library of Israel

Kürzlich konnte ich nicht widerstehen und erwarb im Leipziger Antiquariat Bücherinsel, das nur noch im Untergrund oder für Eingeweihte existiert, eine Erstausgabe von Kafkas »Amerika«. Das war nicht ganz billig, aber ich glaube an die Magie von Büchern, und dass Kurt Wolff persönlich den Druck überwacht haben wird, die ersten Exemplare wahrscheinlich in den Händen hielt, überzeugte mich.

Mit Ehrfurcht bleibe ich immer kurz stehen, wenn ich das ehemalige Verlagshaus bei der Inselstraße quere. Hier soll Kafka zwei Mal gewesen sein. Einmal im Juni 1912, wenige Wochen nach dem Tod Karl Mays, der in Deutschland beziehungsweise dem Deutschen Reich durchaus Schlagzeilen machte, kurz vor seinem Tod hielt May ja einen Vortrag in Wien, im habsburgischen »Kakanien« (Kaiserlich und Königlich), zu dem auch Kafkas Prag gehörte. Kafka übergab das Manuskript der Erzählung »Der Heizer« angeblich während einer dieser beiden Leipzig-Aufenthalte an Kurt Wolff. Der Held in der Erzählung »Der Heizer«, die später das erste Kapitel des Romans »Amerika« werden würde, hieß Karl Roßmann, nicht nur K. wie die Hauptfiguren der späteren Romane. Im Roman »Das Schloss« ist K. sogar Landvermesser, wie Mays Alter Ego Old Shatterhand in »Winnetou I«.

May ist Kolportage, keine Frage, aber er war mit Sicherheit Influenz für den jungen Kafka, vor allem, was die Legenden und den medialen Rummel um seine Person (Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi) betraf: Kafka muss staunend die Berichte über den Hochstapler Dr. May, der sich Welten erträumte, um seinen Albträumen zu entkommen, gelesen haben. Auch May weilte, wie Kafka, einige wenige Male in Leipzig, stahl Pelze in der Stadt der »Rauchwaren«, May verwandelte sich in seinen teils grotesken Abenteuergeschichten, wurde vom Ex-Häftling zum Helden und Kämpfer, vom eher schmächtigen Hilfslehrer zum Hünen, Weltreisenden Doktor, Landvermesser und Fremdsprachen-Experten, vom Sohn armer Weber zum angesehenen Bürger, der Haus und Vermögen besaß … 

Kafkas »Verwandlung« war Schullesestoff in meinem Abiturjahrgang, die Körperentfremdung der Pubertät fand ich hier wieder, aber es war Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie«, die ich nach der Schule las, die mich ungemein beeindruckte, mich auf die Spuren des Prager Dichters (denn das war er, ein Dichter und Verdichter, ein Er-Dichter im Sinne von Erfinder) brachte. »Wer denkt sich denn so was aus?«, war mein erster Impuls nach der Lektüre, ein Mann wird förmlich zu Tode tätowiert, liegt im Inneren einer Höllenmaschine, die ihm sein Vergehen, denn wir sind ja in einer Strafkolonie, in Worten und Sätzen mit Nadeln auf den Leib schreibt.

Das war etwas anderes als das Hemingway’sche Diktum, man solle über das schreiben, was man ganz genau kennt. Aber natürlich kannte Kafka seine Abgründe und

Albträume … In einem Brief, den Hemingway schrieb, nutzte er einmal das Wort »kafkaesk«, er hatte ihn also gelesen, aber Hemingway war eh ein manischer Leser, kannte seinen »Zauberberg«, kannte die Klassiker und die Moderne, die er ja mit begründete.

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann nannte Kafka kürzlich »den wirkungsreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts«. Ich bin kein Freund von solchen Phrasen und Superlativen.

Wirkmächtig war und ist er, keine Frage. Aber was ist dann mit Joyce? Kafka war kein Erneuerer des Stils, der Form, so wie Joyce, der mit »Ulysses« die Form des Romans neu erfand, die ganze Literatur förmlich auf den Kopf stellte, die Sprache aufbrach. (Kurioserweise ist einer der »Erfinder« des literarischen Bewusstseinsstroms Kafkas Zeitgenosse Arthur Schnitzler, der in seiner Erzählung »Leutnant Gustl« den Gedanken ebendieses Leutnants folgte, atemlos, mäandernd, teilweise ohne Punkt und Komma, auch Schnitzler erneuerte die Literatur: Im Jahr 1901, als »Leutnant Gustl« erschien, war die Erzählung eine literarische Revolution!)

Kafka schrieb im eher klassischen Stil, erneuerte aber die Vorstellung eines Realismus, war der erste »Surreale«, ohne dass es das genau trifft, vertiefte den psychologischen Realismus eines Dostojewski, die Albtraum- und Traumszenarien eines Edgar Allan Poe, seine Antihelden – diese K.s – waren unerhört, waren neu, ihrer Entstehungszeit voraus (eine Floskel, die hier aber trifft), wurden erst allmählich verstanden.

Aber die Entwicklung und Wirkmächtigkeit einer Moderne vollzieht sich immer im Zusammenspiel mehrerer Literaturen: Kafka, Schnitzler, Joyce, Dos Passos, Woolf und so weiter.

Ich kaufte Mitte der Neunziger in der schon erwähnten Bücherinsel, die sich damals in Reudnitz befand, in der Oststraße, die Kafka-Gesamtausgabe von Rütten & Loening, erstmals erschienen 1983 in der DDR. Ich erinnere mich, dass ich damals stutzte, 1983? Das kam mir spät vor für eine Gesamtausgabe (eine zweite Auflage der beiden dicken Bände erschien erst 1988). Ich las in der Zeit auch etliches vom marxistischen Literaturtheoretiker Georg Lukács, um die großen Realisten des 19. Jahrhunderts zu verstehen, Lukács lehnte die Moderne weitestgehend ab, aber Kafka? In Lukács’ Aufsatz »Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur« fand sich kein Wort über Kafka, auch Schnitzler wurde ausgespart, ebenso wie Robert Musil, der Dritte im Bunde der großen deutschsprachigen modernen Schriftsteller aus dem zerfallenen Habsburger Reich. Schnitzler, Kafka, Musil. Über Döblin, dessen »Berlin, Alexanderplatz« sicher einer der wirkmächtigsten Romane der deutschen Literatur ist, schrieb Lukács: »Döblin wendet sich scharf gegen die gangbaren Konventionen des Erzählens. … trifft Döblins großer Roman (…) die Wirklichkeit nur in einzelnen privatmoralischen psychologischen Beobachtungen. … kommt er den brennenden Problemen der Epoche und des Tages nie wirklich nahe.« Hier dann noch aus Lukács’ Essay »Thomas Mann oder Franz Kafka« zu zitieren, würde den Rahmen sprengen, kaum verständlich sind heute die klassenkämpferischen Debatten über einen »Formalismus«, über »dekadente Literatur« und so weiter. Und die wurden auch in Leipzig geführt! Hans Mayer, dessen Essaybände ich ebenfalls in der Bücherinsel kaufte, hielt ja hier bis 1963 im Hörsaal seine legendären Vorlesungen, in denen er auch Kafka als Autor der Weltliteratur vorstellte, zusammen mit anderen Autoren der klassischen Moderne, Joyce und Woolf erwähnten wir schon. Als Hans Mayer 1963, von den Bonzen und der Kulturpolitik zermürbt, in den Westen ging, fand in der Tschechoslowakei eine Kafka-Konferenz statt, an der auch ostdeutsche Literaturwissenschaftler teilnahmen. Das klingt beinahe wie das Sujet eines Kafka-Romans! (Und so hätte ich eine Kafka-Serie begonnen, die Kafka-Konferenz in Liblice 1963, die Delegationen der sozialistischen Staaten streiten um eine Einordnung der Werke: Könnten die absurden kafkaesken Welten des Meisters nicht auch im Sinne einer Sozialismuskritik gelesen werden? Die Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft, die Absurdität der Bürokratie, Terror und Willkür, der Mensch in der Maschine des Totalitarismus. Johannes R. Becher nannte Kafka 1951 in Leipzig auf einer Kulturkonferenz »irrelevant und überflüssig für die gesellschaftliche Entwicklung des Sozialismus«. Die Delegation der tschechoslowakischen Reform-Kommunisten sah das 1963 in Liblice aber ganz anders! Kafka als Held des Prager Frühlings. Gescheitert, wie seine K.s. Auch Dr. May würde mit seiner Wiener Rede von 1912 in meiner Serie auftauchen. Machte Kafka vor seiner Reise von Prag nach Leipzig Station in Wien? Wo ja auch Adolf Hitler der Rede Mays gelauscht haben soll ...)

Worauf ich aber eigentlich hinauswollte: Kafkas Literatur, vor allem seinen Roman »Amerika« (auch »Der Verschollene«), verstehe ich als ein radikales Plädoyer für die Fiktion, für die Fantastik, für die Erfindung, fürs Fabulieren und sei es das Fabulieren in einen Albtraum hinein, keine Autofiktion! Radikale Fiktion, auch Aneignung (natürlich!), die eigene Seele in die K.s legen, diese aber als Verschollene in vollkommen fremde Welten schicken. Kafka schrieb nicht den großen Prag-Roman, den großen Versicherungsroman, nein, er erfand. Schloss, Prozess, Amerika.

Und am Anfang war Amerika! Eine Freiheitsstatue, die ein Schwert in den Himmel reckt. Eine bizarre Dame Brunelda, die auf einem Karren ins Bordell gefahren wird, Automaten, Schnellstraßen, eine Million Liftboys, ein Lynchmob, ein Naturtheater, ein erdachtes Amerika, das dem »wahren« Amerika so paradoxerweise unglaublich nah kommt, ein Traum in einem Traum.

Kafka war im Entwerfen von »Plots« und deren Dramaturgie radikal, Abgründe taten sich überall in seiner Prosa auf, diese Freiheit und Radikalität wünsche ich mir dringlichst in unserer Gegenwartsprosa, die nur noch Autofiktionales zu kennen scheint, persönliches Klein-Klein, zurückschreckt vor einer möglichen »Aneignung« von Stoff, Kultur und/oder Terrain, die Figur Robinson, die Karl Roßmann immer wieder begegnet in Amerika, führt mich zur Robinson-Figur Louis-Ferdinand Célines, dessen Autofiktion »Reise ans Ende der Nacht« eine so surreale und absurde Welt entwirft, dass sie keine Autofiktion mehr ist. Céline wurde ein furchtbarer Antisemit, wie hätte eine Begegnung der beiden ausgesehen? Oder hätte Kafka, wenn er denn nicht schon 1924 gestorben wäre, Europa vor dem Erstarken der Nazis verlassen?

Bezog sich Célines Robinson auf den von Kafka (was nicht ganz unmöglich ist) oder eben doch auf die einsame Insel des Robinson Crusoe, auf der auch Kafka Zeit seines Lebens gefangen war? Meine Kafka-Serie würde wahrscheinlich kein Ende haben (zu viel wäre noch zu sagen beziehungsweise zu schreiben), K. wandert durch die Zeiten.


Clemens Meyer lebt schon immer in Leipzig, wurde aber 1977 in Halle/S. geboren. Mit »Als wir träumten« betrat er 2006 die literarische Bühne, sein Jubelschrei nach dem Gewinn des Preises der Leipziger Buchmesse für »Die Nacht, die Lichter« im Jahr 2008 echot noch heute in der Glashalle. Am 28. August erscheint bei S. Fischer sein neuer Roman »Die Projektoren«. Mit 1.056 Seiten!


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