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Über Kafkas »Wunsch, Indianer zu werden«

von Kerstin Preiwuß

  Über Kafkas »Wunsch, Indianer zu werden« | von Kerstin Preiwuß  Foto: Ardon Bar-Hama / The Literary Estate of Max Brod

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum vor sich das Land als gemähte Heide sah, schon ohne Hals und Pferdekopf.

Ein Satz Kafkas und bereits ein ganzer Text. Mit einer Sprachspannung, wie man sie aus der Lyrik kennt und in der Prosa zu selten gebraucht. Indem sich in einem Satz zwei Denkbewegungen vollziehen, entsteht Paradoxie. Beginnt der Satz im Konjunktiv, so endet er im Präteritum, was erstens einen Wechsel vom Modus ins Tempus bedeutet und zweitens etwas, das im ersten Teil des Satzes als Zukunft möglich schien, nun in die Vergangenheit rückt. Die Handlung wird gleichzeitig in Richtung Zukunft und Vergangenheit angedacht, aber nicht ausgeführt. Es ist, als bliebe die Sprache im Startloch stecken, obwohl das Rennen längst begonnen hat. Durch die Gleichzeitigkeit beider Denkbewegungen, die Kafka hier in einem Satz einander gegenüberstellt, wird jegliches Deuten im Sinne einer Entwicklung der Zeichen zurückgepfiffen. Es findet letztendlich nicht statt, da dem Ausgesprochenen bereits im Aussprechen der Boden entzogen wird. Die Zeichen bewegen sich im Kreis bzw. treten auf der Stelle, was in etwa das Gleiche ist. Der Sinn ist implodiert und in die Unendlichkeit verrückt. Unendlichkeit aber ist für uns Menschen nicht zu fassen. Sie ist bezeichenbar, aber nicht spürbar. Seltsamerweise ist es am Ende immer das, was uns ideal erscheint und wonach wir um Erkenntnis ringend streben. Kafkas »Wunsch, Indianer zu werden« versinnbildlicht diesen Zustand als Geschehen. Seine Paradoxie entspringt der Unfähigkeit, sich für eine Denkbewegung zu entscheiden. Oder aber die Fähigkeit, sich denkend gleichzeitig in zwei Richtungen bewegen zu können, macht es unmöglich, ihnen nachzugehen. In der reflexivsten Verwendung, die man sich überhaupt vorstellen kann, verweist Kafka auf die Symbolkraft, die allem Denken als Spur von Bewegung innewohnt. Oder, wie Zenon einmal auf die Frage, ob denn nichts ruhe, antwortete: Ja, der fliegende Pfeil ruht. 


Kerstin Preiwuß lebt als freie Autorin, Professorin für Literarische Ästhetik und Leiterin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Sie wurde 1980 in Lübz geboren und debütierte 2006 mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«. Ihr zweiter Roman »Nach Onkalo« war 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien von der Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin 2023 »Heute ist mitten in der Nacht« (Berlin-Verlag).

 


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