Das Bachfest vom 7. bis zum 16. Juni war ein Musikfest der Internationalität und des Miteinanders. Ein Kontrapunkt zu den sächsischen Ergebnissen der Europawahl, welche zeitgleich Botschaften der Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit signalisierten. Unter dem Motto »CHORal TOTAL« standen im Mittelpunkt diesmal gleich zwei Jubiläen: 500 Jahre Luther-Choräle und der 300. Geburtstag jener gut 50 Kantaten, die der Thomaskantor Bach während seiner zweiten Leipziger Kantaten-Saison ab Juni 1724 auf bekannte Kirchenlieder komponierte. Diese Kantaten wurden in 16 Konzerten und zahlreichen Gottesdiensten von 30 Bach-Chören aus fünf Kontinenten aufgeführt, während Besucherinnen und Besucher des Bachfestes die Gelegenheit hatten, die Choräle mitzusingen. Knapp 76.000 Gäste aus über 50 Ländern besuchten 157 Veranstaltungen. Bereits im Vorfeld konnte man sich die Internationalität der Wertschätzung und Pflege von Bachs Werk mit dem Film »Living Bach« vor Augen führen. Regisseurin Anna Schmidt portraitierte hier Bach-Ensembles aus aller Welt. Einen eindrucksvollen Live-Eindruck dieser Begeisterung konnte man beispielsweise im Konzert der Malaysia Bach Festival Singers and Orchestra unter der Leitung von David Chin in der Thomaskirche am vergangenen Donnertag bekommen. Die Darbietung der Kantaten »Ich hab in Gottes Herz und Sinn« (BWV 92) und »Mit Fried und Freud ich fahr dahin« (BWV 125) provozierten Standing Ovations und Zugaben.
Neben der Aufführung der Choralkantaten gab es zahlreiche Konzerte namhafter Solistinnen, Solisten und Ensembles. Darunter befanden sich Wegbereiter der historisch informierten Aufführungspraxis, unter anderem Ton Koopman mit dem Amsterdam Baroque Orchestra & Choir oder das Collegium Vocale Gent unter Leitung von Philippe Herreweghe. Letztere gestalteten mit herausragenden Gesangssolistinnen und -solisten, darunter den Sopranistinnen Dorothee Mields, Hanna Blaziková und dem Altus Alex Potter, auf eindrückliche Weise das Abschlusskonzert des Bachfestes. Traditionell war dies am vergangenen Sonntag die Aufführung der h-moll Messe (BWV 232) in der Thomaskirche. Als ehemaliger Schüler Ton Koopmans wurde in diesem Jahr der Cembalist und Pianist Andreas Staier mit der Bach-Medaille der Stadt Leipzig geehrt. Anerkannt werden mit dieser Auszeichnung besondere Verdienste um das Werk Johann Sebastian Bachs.
Einer noch jüngeren Generation gehört die »Artist in Residence«-Geigerin Chouchane Siranossian an. Von atemberaubender Energie und Virtuosität waren die Konzerte dieser Ausnahmemusikerin, die gleichermaßen auf der modernen wie auf der Barockvioline zu Hause ist. Sie war mit Alban Bergs Violinkonzert zum Eröffnungskonzert ebenso wie mit romantischem und barockem Repertoire zu erleben. Eindrucksvoll, mit einem geradezu übernatürlichen Grad an Virtuosität, demonstrierte sie beim Konzert »Bach before Bach« mit dem Cellisten Daniel Rosin und Leonardo García Alarcón am Cembalo das ganz besondere klangliche Potential barocker Instrumentalkunst mit Musik von Bachs Vorgängern und Frühwerken von Bach selbst.
Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher widmete sich an drei Abenden dem Thema »Wiederholungen«. Mit »...spiel es noch einmal...« überschrieb er den zur Tradition gehörenden Musica Nova-Abend am vergangenen Mittwoch im Gewandhaus. Obgleich er die Verbindung von Terry Riley zum Bachfest »an den Haaren herbeigezogen« nennt, fand er sie doch: Die Verbindung der beiden Komponisten liege in den Stimmen, die miteinander korrelieren - wie eben auch in Rileys »In C«.
Die grenzenlose Vielfalt des Bachfestes schloss mit »Apokalypse« auch ein bemerkenswertes Großwerk ein. Angekündigt wurde dieses Musiktheater, dass sich der Geschichte um den Wiedertäufer Jan van Leiden widmet, als »Die Oper, die Bach nie geschrieben hat«. »Und dann haben wir noch den religiösen Fanatismus der Münsteraner Wiedertäufer mit heutigen Verirrungen enggeführt«, so Regisseur Thomas Höft über die Oper, die dem barocken Parodieverfahren nachempfunden, vorhandene Musik Bachs mit neuen Inhalten unterlegt. Die nach der Pause beträchtlich geschrumpfte Zuschauerzahl ließ auf die Toleranz des Publikums schließen, die populärsten sakralen Chöre und Arien Bachs mit geschäftiger, recht dichter Informationsübermittlung amalgamiert zu hören. Dennoch: Musikalisch eindrucksvoll dargeboten vom Chor und Orchester der Niederländischen Bachgesellschaft unter der Leitung von Hernán Schvartzman, widmete sich das Bühnenwerk den überaus aktuellen Themen von Populismus und Radikalisierung.
Am letzten Abend des Musikmarathons war die Grabplatte Johann Sebastian Bachs in der Thomaskirche von Blumen geschmückt. Das Bachfest zeigte 2024 Vielfalt und Breite ebenso wie Darbietungen höchster musikalischer Spitzenqualität. Kostengünstige Tickets für Studierende, zahlreiche Metten und Gottesdienste sowie die Konzerte auf dem Martktplatz ermöglichten es bei freiem Eintritt jedem, dabei zu sein. Das Bachfest findet im kommenden Jahr vom 12. bis 22. Juni unter dem Titel »Transformation« statt.