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Zwei Jahre Nachspielzeit

Ein Prozess wirft neues Licht auf den Polizeieinsatz und die Ausschreitungen im Derby zwischen Chemie und Lok Leipzig im Mai 2022

  Zwei Jahre Nachspielzeit | Ein Prozess wirft neues Licht auf den Polizeieinsatz und die Ausschreitungen im Derby zwischen Chemie und Lok Leipzig im Mai 2022  Foto: Christian Modla

Im Verhandlungssaal 252 des Leipziger Amtsgerichts steht die Luft an einem heißen Augustvormittag. Trotzdem schließt Daniel Werner das Fenster. Der Anwalt will, dass neben Richter Müller und Staatsanwalt König auch die fünf Zuschauerinnen und Zuschauer jedes Wort der Einlassung zum Tatvorwurf seines Mandanten verstehen.

Werner vertritt einen 23-Jährigen, der beim Stadtderby zwischen Chemie und Lok Leipzig am 7. Mai 2022 im Alfred-Kunze-Sportpark (AKS) Landfriedensbruch begangen und Polizisten angegriffen haben soll. Gegen 88 mutmaßliche Anhänger der BSG Chemie Leipzig  ermittelt die Staatsanwaltschaft Leipzig wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs, antwortete die Staatsanwältin Vanessa Fink auf eine kreuzer-Anfrage. In 73 Fällen habe die Staatsanwaltschaft inzwischen Anklage erhoben, elf Verfahren seien eingestellt worden. 16 Urteile seien bereits ergangen, wovon acht rechtskräftig seien.

Während des Spiels war es zu schweren Ausschreitungen zwischen Polizei und Chemie-Anhängern gekommen (siehe kreuzer 11/2022), bei denen die Fußballfans »mit allen in unmittelbarer Nähe auffindbaren Gegenständen« Polizeikräfte beworfen haben, heißt es in der Anklageschrift, die der kreuzer einsehen konnte. Neun Beamte wurden verletzt, einer von ihnen musste seinen Dienst vorzeitig abbrechen. Mit seinen bisherigen Urteilen folgte das Amtsgericht im Wesentlichen der Anklageschrift. Die vorsitzenden Richterinnen und Richter verhängten laut Staatsanwaltschaft Bewährungsstrafen zwischen einem Jahr und sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Hinzu kämen hohe Geldstrafen und mehrjährige gerichtliche Stadionverbote.

 

Unverhältnismäßiger Polizeieinsatz?

Auf den Videoaufnahmen sieht man, wie sich der zweite Zug am Treppenabsatz vor den Chemie-Fans aufstellt. Der Zugführer der beteiligten Polizeieinheit sagt als dritter Zeuge aus: An einen Moment, in der sich die Situation etwas beruhigt hätte, könne er sich nicht erinnern. Als seine Einheit den Fans unmittelbar gegenüberstand, sei sie ununterbrochen »massiven Angriffen« ausgesetzt gewesen: »Die ersten Reihen: Das war die pure Aggression und Abneigung gegen die Polizei.«

Auf den Videoaufnahmen der Polizeieinheiten ist zu sehen, wie sich Polizei und Fans für wenige Minuten gegenüberstehen: Chemie-Fans sind mit ihrem Handy beschäftigt, diskutieren mit den Beamten, im Hintergrund sind einzelne Vermummte zu sehen. Zudem stellt sich eine Handvoll Ordner zwischen beide Gruppen und scheint die Situation beruhigen zu wollen. Unmittelbare Angriffe sind in diesem Moment nicht zu sehen. Doch dann gehen die Fans unvermittelt einen Schritt auf die Beamten zu, drehen sich auf der Treppe aber sofort wieder um. Es ist im Video nicht erkennbar, ob die Fans das bewusst getan haben, oder wenige von ihnen den Stand verloren und nach vorne gestolpert sind. In dem Moment hatten die Polizisten bereits Pfefferspray eingesetzt, trafen damit unter anderem die vor ihnen stehenden Ordner. »Bei einer solchen Gruppe ist es nicht möglich, nur punktuell Pfefferspray einzusetzen«, sagt der Zugführer. Hundertschaftsführer G. gab daraufhin die Anweisung zum Rückzug, woraufhin der zweite Zug wieder in Richtung des Dammsitzes lief.

G. sagt vor Gericht, er habe keinen der Pfeffersprayeinsätze extra freigegeben, beide seien aus Notwehr passiert. Grundsätzlich dürfe Pfefferspray nur gezielt gegen »Störer« eingesetzt werden, gegen Personengruppen sei der Einsatz nur »in angemessener Verhältnismäßigkeit« gerechtfertigt. Auf Personen, die einem den Rücken zudrehen, dürfte kein Pfefferspray eingesetzt werden.

Außer für den Einsatz von Pfefferspray interessiert sich Verteidiger Werner auch für die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften. Denn G. stand zwar in Kontakt mit seinen beiden Zügen, nicht aber mit der Beweis- und Festnahme-Einheit (BFE), die als letzte am Norddamm eintraf. Dort rannte die BFE die Treppen in Richtung Fans hoch, musste aufgrund des Bewurfs aber sofort wieder umkehren. G. berichtet, in diesem Moment bereits an die zuständige Einsatzabteilungsleitung durchgegeben zu haben, dass sich seine Züge zurückziehen mussten. Sowohl die Hundertschaft als auch die BFE unterstanden der Einsatzabteilungsleitung, Einfluss auf die BFE hatte G. nicht. Ob der Leiter der BFE vom Rückzug der Bereitschaftspolizei wusste, wisse G. nicht. Aufgrund der Kommunikationswege könnten allerdings Verzögerungen von drei bis vier Minuten entstehen, bis Nachrichten weitergegeben werden. Eine spontane Unterstellung der BFE an G. habe es nicht gegeben, »wäre aber ratsam gewesen«, sagt der Hundertschaftsführer.

 

Spontandemo gegen Videoüberwachung?

Zum Abschluss des Verhandlungstages stellt Verteidiger Werner noch einen weiteren Beweisantrag. Bei den zunächst verbalen Auseinandersetzungen zwischen Fans und Polizei habe es sich um Spontandemonstration gegen die Videoüberwachung gehandelt. Laut Versammlungsrecht hätte diese Spontandemo von der Polizei besonders geschützt und zuerst aufgelöst werden müssen, ehe die Einsatzkräfte unmittelbaren Zwang auf die Teilnehmenden ausüben. Bei der Bewertung der Angriffe der Chemie-Anhänger müsse das rechtswidrige Agieren der Polizei berücksichtigt werden.

»Das ist keine rechtsstaatliche Verteidigung«, entfährt es Staatsanwalt König, »Das ist Zeitverschwendung!« Werner führe die Versammlungs- und Meinungsfreiheit ad absurdum. »Wenn die Polizei handelt, muss man sich erst mal dementsprechend verhalten.« Im Nachgang könnten Betroffene immer noch juristisch gegen vermeintliches Fehlverhalten der Polizei vorgehen.

Am zweiten Verhandlungstag Ende August sollen die Videoaufnahmen vor Gericht eingesehen werden. Für König steht fest, was darauf zu sehen sein wird: »Gewaltbereite, marodierende Anhänger der BSG Chemie.« Nach über sechs Stunden Verhandlung hat der Staatsanwalt noch einen Ratschlag an den Angeklagten: »Prüfen Sie, ob Sie nicht einen anderen Verteidiger brauchen.«


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1 Kommentar(e)

Michael 11.09.2024 | um 13:22 Uhr

Spannender Artikel! Berichtet der Kreuzer auch von den folgenden Verhandlungstagen bzw. vom Prozessende? Es wäre interessant zu wissen, wie es ausgeht.