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Politik

Immerhin nicht Thüringen

Die Stimmung in Leipzig schwankt angesichts der Landtagswahlergebnisse zwischen Enttäuschung, Wut und Hoffnung. Ein Wahlabend.

  Immerhin nicht Thüringen | Die Stimmung in Leipzig schwankt angesichts der Landtagswahlergebnisse zwischen Enttäuschung, Wut und Hoffnung. Ein Wahlabend.  Foto: Privat

»Ein gutes Fundament« sei das Wahlergebnis, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in den Tagesthemen am Sonntagabend. Seine Partei ist weiterhin stärkste Kraft, ansonsten sind für Kretschmer die erwartbar schlechten Szenarien eingetreten: die AfD im Rekord-Hoch, ein aus dem Stand zweistelliges Ergebnis des BSW und eine bisher amtierende Koalition, die so wohl nicht weiterregieren können wird.

Sachsen: CDU 31,9 (–0,2), AfD 30,6 (+3,1), BSW 11,8 (+11,8), SPD 7,3 (–0,4), Grüne 5,1 (–3,5), Linke 4,5 (–5,9)

Leipzig: CDU 27,5 (+2,1), AfD 19,9 (+2,6), Linke 19,4 (+3,5), Grüne 11,6 (–6,6), BSW 8,6 (+8,6), SPD 8,2 (–1,7)

Das erste vorläufige Ergebnis hatte die Landeswahlleitung am Montagvormittag korrigiert. Aufgrund eines Softwarefehlers hieß es in der Nacht zum Montag noch, die AfD hätte eine Sperrminorität erreicht - diese scheint sie nun um einen Sitz zu verpassen.

Nach Wochen des Wahlkampfs in Leipzig, der sich vor allem ums taktische Wählen drehte, lag der Fokus auf einer Frage: Wie viele Direktmandate holen Linke und Grüne? Ein Wahlabend in Leipzig.

17:24 Uhr: Lagerhofstraße, Duqo

Leichte Housebeats dringen über den Freisitz des Duqo. Nam Duy Nguyen hat sein Wahlkampfteam zur Wahlparty geladen. An beinahe 50.000 Türen haben sie im Leipziger Osten in den letzten Wochen geklingelt. Am Sonntag gibt es für fünf Euro Eintritt ein Freigetränk. Die meisten der etwa 250 Menschen hier sind Anfang oder Mitte 20, ein Opa trägt sein Enkelkind auf dem Arm, in der Menge drängeln sich mehrere Kamerateams über den Sandboden.

Neben der Bar ist eine Pinnwand aufgestellt, an der die zahlreichen Artikel überregionaler Medien hängen, die über Nguyen in den letzten Wochen berichteten. Daneben steht ein Whiteboard, an dem die Gäste zu mehreren Fragen ihre Gedanken in Sprechblasen schreiben können. Was hätte besser laufen können im Wahlkampf? Mehr Kontakt zur Partei, steht da. Besser herausstellen, wofür Nam steht und was nach der Wahl passiert. Woran werde man sich erinnern? Eine Bewegung innerhalb der Linken geschaffen zu haben, die es so bisher nicht gegeben habe: antifaschistisch, queerfeministisch, klimabewusst.

Auf einem Flatscreen leuchten die Balken der ersten ARD-Prognose auf. CDU und AfD um die 30 Prozent. Stille. Die Linke bei 4 Prozent. Leichtes Stöhnen. »Das sind ja erstmal nur Prognosen«, sagt ein Mann aus Nguyens Team ins Mikrofon. »Gibt trotzdem bessere Bedingungen, um diesen Abend kämpferisch anzumoderieren.« Allen ist in dem Moment klar: Nguyen muss den Wahlkreis holen, um in den Landtag zu kommen – und damit wohl auch seine Partei. Der 28-Jährige steht währenddessen in der Menge, gibt seine ersten Interviews.

18:31 Uhr: Heinrichstraße, Grünes Quartier

Vor dem Abgeordnetenbüro von Christin Melcher ist es still. Auch drinnen ist keine Partystimmung zu finden. Als Björn Höcke gerade in der ARD interviewt wird, sind die meisten Stühle vor der Leinwand leer. Etwa 40 Menschen sitzen im Garten. Auch Claudia Maicher, Direktkandidatin im Leipziger Westen. Ein bisschen mehr als die fünf Prozent aus der ersten Prognose habe man sich schon erhofft, sagt sie. Die meisten Gespräche im Grünen Quartier drehen sich aber um die Erststimmen. Man nimmt es den Linken übel, dass sie sich ausgerechnet die Wahlkreise von Melcher und Maicher ausgesucht hatten für Erststimmenkampagnen mit Nam Duy Nguyen und Marco Böhme, erzählt ein Grüner aus dem Leipziger Kreisverband. Die Angriffe aufeinander müssten aufgearbeitet werden.

Angespannt tippen einige auf ihren Handys rum. Die ersten Zahlen zu den Direktmandaten sind online. Der Trend: Maicher verteidigt ihren Wahlkreis mit 6,5 Vorsprung vor Böhme, Melcher verliert ihren gegen Nguyen – der Linke holt am Ende fast 40 Prozent der Stimmen, Melcher nur 13. Jemand macht noch schnell das Licht im Raum an, als Melcher und Maicher vor ihre Gäste treten. »Das Thema strategisches Wählen war das dominante, da konnten wir wenig dagegensetzen«, sagt Melcher. »In den letzten Tagen hat es eine ganz starke Zuspitzung auf den Wahlkreis Leipzig Mitte gegeben und das Narrativ, dass hier die AfD besiegt werden müsse.« Claudia Maicher spricht von einem unglaublich harten Wahlkampf. Man habe gehofft, in Leipzig viele Menschen gewinnen zu können. »Aber viele haben sich entschieden, ihre Zweitstimme der CDU oder der Linken zu geben. Das ist genau das Narrativ, das lange bespielt wurde.« Mit Themen, die für Leipzig wichtig wären, sei man kaum durchgedrungen. »Das ist bitter«, sagt Maicher. Jemand drückt den beiden Blumensträuße in die Hand, zu einem Lächeln können sie sich kaum zwingen.

19:46 Uhr: Martin-Luther-Ring, Neues Rathaus

In der oberen Wendelhalle schallen die Stimmen der Anwesenden von den Wänden. Inzwischen sind immer mehr Wahlbezirke ausgezählt. Es scheint festzustehen: Nguyen gewinnt sein Direktmandat, ebenso wie Juliane Nagel im Leipziger Süden. Auch wenn die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, zieht sie über die zwei gewonnenen Wahlkreise und die Grundmandatsklausel in den Landtag ein – und erhält vermutlich sechs Sitze. So viele sind nötig, um eine Fraktion bilden zu können. Nagel ist von ihrer Wahlparty im Linxxnet ins Rathaus gekommen. »Die vier Prozent sind total ernüchternd für die Linke. Ich freue mich natürlich für Nam und mich, bin aber auch sehr traurig, dass Marco Böhme offensichtlich abgeschlagen ist, weil: ihn bräuchten wir, gerade für das Thema Klimapolitik.« Böhme wird es auch über seinen Listenplatz nicht in den Landtag schaffen, dafür ist die Linke außerhalb der urbanen Räume in Sachsen zu schwach.

»Ich will nicht, dass die Linke eine Großstadtpartei wird«, sagt Nagel. »Wir müssen es schaffen – und das schnell –, uns wieder flächendeckend als die Ansprechpartnerin für die sozialen Belange zu etablieren.« Neben einem starken BSW würde die Linke vor allem darunter leiden, 35 Jahre nach der Wende noch immer ihre Karte als PDS-Nachfolgerin und Vertreterin der Ost-Interessen zu spielen, sagt Nagel. »Wir haben zu spät angefangen, uns neu zu erfinden, als linke, sozialistische Partei, die auch Gestaltungsanspruch an die Zukunft hat.«

Ist Nam Duy Nguyens Erfolg Ausdruck dieses Anspruchs? »Das ist ein kleiner Part der Erneuerung«, sagt Nagel. »Aber da ging es viel um das Generieren von Masse, das wird nicht die Alltagspolitik sein. Die machen wir in Leipzig schon länger: vor Ort sein, Leuten bei ihren sozialen Belangen auch praktisch zur Seite stehen. Das ist eine gute Linie, aber die muss eben auch landesweit gelten.«

Von den Grünen ist nur Claudia Maicher ins Rathaus gekommen. Neben Maicher gewinnt auch der Grüne Thomas Löser sein Direktmandat in Dresden. Von ihrer Pressesprecherin wird Maicher von einem ins nächste Interview geschoben. Man sei natürlich nicht zufrieden, sagt sie dem kreuzer. »Nichtsdestotrotz sind wir in Fraktionsstärke drin.« Nach der Korrektur des vorläufigen Wahlergebnisses stehen den Grünen sieben Sitze zu, somit zieht Melcher über die Landesliste ins Parlament ein. »Wir sind angetreten mit dem Versprechen, die Modernisierung, die wir in den letzten Jahren angestoßen haben, auch fortzuführen. Und deswegen wird sich zeigen, ob es rechnerisch möglich ist. Und wir werden natürlich bereit sein für Gespräche.« Dabei deutet sich schon an, dass der bisher regierenden Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen wohl zukünftig die Mehrheit fehlen wird.

Es wird also vor allem von der CDU abhängen, wie künftig in Dresden regiert wird. Aus der Landeshauptstadt ist Andreas Nowak ins Rathaus gekommen. Als er 2021 Kreisvorsitzender der Leipziger CDU wurde, habe er als Ziel ausgerufen, bei der Landtagswahl stärkste Kraft zu werden und die Mehrheit der Mandate zu holen, erzählt Nowak. »Da haben nicht wenige so geguckt, als wenn ich dringend mal zum Arzt muss.« Angesichts der Erststimmenergebnisse in den sächsischen Städten, wo die CDU ihre Wahlkreise gegen die AfD verteidigte, zeigt sich Nowak selbstbewusst. Auch in Leipzig holte die CDU bis auf die drei Wahlkreise von Maicher, Nagel und Nguyen alle fünf Direktmandate. »Die Position der großen Städte innerhalb unserer Partei ist wichtiger geworden. Das sollte sich dann künftig auch widerspiegeln – sowohl inhaltlich als auch im Personal«, sagt Nowak.

Dass es für eine Neuauflage von Kenia wohl nicht reichen wird, lässt Nowak kalt: »Die hat in der CDU sowieso keine großen Fans mehr.« Und wie sieht es dann mit einer Regierungsbeteiligung des BSW aus? »Ich habe dazu noch keine Meinung, weil das für mich immer noch eine Blackbox ist«, sagt Nowak. Einmal habe er mit dem Landesvorsitzenden Jörg Scheibe gesprochen: »Ein angenehmes Gespräch. Aber das ist jetzt weit davon entfernt zu sagen, das könnte etwas werden oder nicht.«

20:49 Uhr: Martin-Luther-Ring, Rathausvorplatz

Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Eine Reihe Polizeigitter steht vor den Stufen ins Rathaus. Mehrere Hundert Menschen haben sich auf dem Rathausvorplatz versammelt. Gemeinsam mit den Omas gegen Rechts hatte das Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz Demos vom Felsenkeller und vom Rabet angemeldet, die bis zum Rathaus zogen. Hinter den Rednerinnen und Rednern schwenkt der Kommunistische Aufbau einige Fahnen. »Ich kann nicht und werde nicht hinnehmen, dass uns die Faschos alles kaputtmachen«, schreit der Autor und Aktivist Jakob Springfeld ins Mikrofon. »Ob Ost, ob West, nieder mit der Nazipest«, ruft die Menge.

Unterdessen ist im Duqo bei Nam Duy Nguyen Gewissheit eingetreten, dass es mit seinem Direktmandat geklappt hat. »Ich bin überwältigt«, sagt er dem kreuzer am Telefon. »Vorab muss aber auch gesagt werden, dass die AfD heute wieder zweitstärkste Kraft geworden ist – das ist für Sachsen und für die Menschen hier eine Katastrophe.«


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