Ein »Platz für Sonderformen der Realität« ist der Film laut Siegfried Kracauer. Diesen Gedanken führt das Team des Gegenkino-Festivals weiter, befragt den Film auf seine ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, schafft Raum für außergewöhnliche Inhalte, widerständige Positionen und marginalisierte Erzählungen. »Wir glauben an das Potenzial, das der Film hat. Das liegt allem voran darin, dass man sich mit anderen Entwürfen, Hintergründen und Perspektiven auseinandersetzen kann, die man vielleicht noch nicht kennt. Kino kann nicht nur eigenen Horizonte und Erwartungen an das Leben bedienen, sondern auch irritieren«, erklären Amos Borchert und Sebastian Gebeler aus dem Organisationsteam des Festivals im Gespräch mit dem kreuzer.
Zehn Jahre ist es nun her, dass vier Filmbegeisterte zueinandergefunden haben, um das Gegenkino-Festival zu gründen. Obgleich sich das Team etwas verändert hat, sind die Ambitionen dieselben, nämlich »Nicht-Gesehenes oder Vergessenes zum Vorschein zu bringen, Filme zu zeigen, die bisher in Leipzig keine Leinwand gefunden haben. Unser Anspruch ist es, diese Inhalte auch zu vermitteln, also in Form von Gesprächen. Auch die Historie interessiert uns, weil wir so aktuelle Tendenzen des Kinos reflektieren können. Performative Formate finden wir ebenfalls spannend«, fassen Gebeler und Borchert zusammen.
Zudem spiele das Format für sie eine wichtige Rolle, betonen die beiden Filmenthusiasten ihre Liebe zu Analogmaterial: »Das ist kein Fetisch, sondern eine Überzeugung.« Für die diesjährige Ausgabe des Festivals empfehlen die beiden Mitorganisatoren natürlich: alles – ganz besonders aber das »Milieukino«. In der mobilen Spielstätte für 15 Personen werden Analogfilme aus den späten Siebzigern und frühen Achtzigern gezeigt, die die Subkultur thematisieren. Der Eintritt ist frei. In das vielseitige Programm fügt sich zudem die alljährliche Live-Vertonung ein. Dieses Jahr nimmt niemand Geringeres als die sächsische Post-Punk-Gruppe Pisse die Bühne im UT Connewitz ein, um mit ihrer brachialen Soundästhetik den Gay-Erotica-Film »Bijou« von 1972 zu vertonen.
Amos Borchert und Sebastian Gebeler, beide aus dem Organisationsteam des Gegenkino Festivals, haben sich Zeit genommen, um mit dem kreuzer die Festivalgeschichte Revue passieren zu lassen.
Kreuzer: Das Gegenkino-Festival gibt es seit nunmehr 10 Jahren. Wie habt ihr damals eigentlich zueinander gefunden?
Sebastian Gebeler: Das hat sich organisch gefügt. Wir waren ursprünglich vier Leute. Ich habe damals in der Schaubühne gearbeitet und an der Planung des Programms mitgewirkt. Stephan Langer war als Filmvorführer in der Schaubühne und im Luru Kino tätig. Inga Brantin hat in der Schaubühne gearbeitet und André Kalnassy war einfach sehr filminteressiert. Wir haben uns in ähnlichen Kreisen bewegt und sind über das gemeinsame Interesse für den Film zusammengekommen. Über die letzten 10 Jahre hat sich das Team verändert, aber das ursprüngliche Motivation blieb gleich: Nicht-gesehenes oder Vergessenes zum Vorschein zu bringen, Filme zu zeigen, die bisher in Leipzig keine Leinwand gefunden haben. Unser Anspruch ist es, diese Inhalte auch zu vermitteln, also in Form von Gesprächen mit Expertinnen und Experten, die nicht unbedingt Filmwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler sein müssen.
Amos Borchert: Dabei ist die Struktur des Festivals weitestgehend gleichgeblieben und verstetigt in seiner Vielseitigkeit, was uns interessiert. Seit den ersten Ausgaben, gibt es den Programmpunkt, Filme live zu vertonen. Auch die Vermittlung, der Blick in die Historie zum Beispiel einer Filmemacherin oder eines Filmemachers, spielt immer eine wichtige Rolle. Die Historie interessiert uns, weil wir so aktuelle Tendenzen des Kinos reflektieren können. Auf der anderen Seite möchten wir auch aktuelle Festivalfilme zeigen, die nicht den Weg zu einem regulären Kinostart in Deutschland finden. Auch performative Formate interessieren uns, wie beispielsweise das »Vertical Cinema«.
Wie schafft ihr es, ein so vielseitiges Programm zu zusammenzustellen?
SG: Wenn man ins Programmheft schaut und sieht, wie viele Genres nebeneinanderstehen, kann das ein bisschen wahllos wirken. Ist es aber nicht. Beispielsweise nehmen wir dieses Jahr die Genre-Filmemacherinnen Roberta Findlay, Doris Wishman und Stephanie Rothman in den Blick. Sie haben von Ende der 60er bis Anfang der 80er vor allem in männlich dominierten Genres veröffentlicht, wie etwa Action-Kino und Hardcore-Pornographie. Das geht super zusammen. Unser Anliegen ist es, Filmgegenwart aus der Vergangenheit zu verstehen.
AB: Zudem wollen wir unterschlagenes Kino aufnehmen, das nicht aus einer privilegierten Position heraus entstanden ist. Beispielsweise ist uns wichtig, Black Cinema und afrikanisches Kino, wie auch queere Positionen zu zeigen. Ich glaube, es gibt noch viel aufzuholen. Wir zeigen ja nicht queere Film, weil es gerade angesagt ist. Viel wichtiger ist es, davon überzeugt zu sein, die Bandbreite unterschiedlicher Perspektiven, verschiedene Positionen und Formate abzubilden.
SG: Ein wichtiger Bestandteil des Programms ist auch der Austausch mit anderen Institutionen. So haben wir dieses Jahr Personen von der Kinothek Asta Nielsen eingeladen und werden eine Kurzfilmrolle aus ihrem Archiv zeigen. Die Kinothek hat sich Ende der 90er Jahre gegründet und setzen sich seit jeher für queer-feministische Filmgeschichte ein, in dem sie beispielsweise Festivalprogramme entwickeln. Es ist uns ein Anliegen, mit Verbündeten öffentlich ins Gespräch zu kommen.
AB: Daran schließt sich unsere Liebe zu Analogmaterial an – das ist kein Fetisch, sondern eine Überzeugung. Dieses Jahr sind wieder viele Programmpunkte, die auf 35mm, auf 16mm Filmformaten laufen. Es wird auch einen Abend mit Experimentalfilme geben, an dem man sieht, wie man Analogmaterial bearbeiten kann, beispielsweise durch Doppelbelichtungen oder Schnitttechniken.
Was ist Euch aus den letzten 10 Jahren als besonderes Highlight in Erinnerung geblieben?
AB: Mir ist besonders das Vertical Cinema in Erinnerung geblieben.
SG: Das Vertical Cinema funktioniert mit einer gedrehten, also vertikalen Leinwand, die in 10m Höhe im Kirchenschiff der Paul-Gerhardt-Kirche hing. Die Konzertanlage des UT Connewitz hing in der Kirche. Die Analogfilme, die wir zeigten, waren Auftragsarbeiten, sodass die Produktionen nur hier gezeigt wurden. Das war Überwältigungskino.
Mein Highlight war vor zwei Jahren die Filmvertonung von »A Page of Madness« (1926) durch Ichiro Kataokoa. Er ist ein Benshi, ein Filmerzähler. In Japan gibt es die Stummfilmerzählpraxis, bei der ein Sprecher den Personen im Film seine Stimme leiht. Das fand ich sehr beeindruckend – obwohl er das auf Japanisch gemacht und man kein Wort verstanden hat. Kataokoa kam aus Tokyo und ist, wie wir mitbekommen haben, ein sehr großer Filmliebhaber. Er hatte etwa 3000 Schellackplatten bei sich, viele davon mit Filmmusik, die er in Bonn an die Universität vermacht hat. Gemeinsam mit einer Person aus dem Archiv hat Kataokoa die Sammlung vorgestellt. Im Zuge dessen haben sie beispielsweise Songs von Marlene Dietrich vorgespielt, die »japanisiert« wurden, sie hat dann eben nicht auf Deutsch, sondern auf Japanisch gesungen. Für mich war das ein tolles Rund-um-Paket.
Ein besonderes Highlight sind die Live-Filmvertonungen. Wie wählt ihr aus, welche Musikerinnen und Musiker auf welche Filme treffen?
SG: Zum einen gibt es Leute, die wir gezielt anfragen. So war das bei der Band Pisse. Dieses Jahr wird Pisse den 70er Jahr Gay-Erotica-Film »Bijou« live vertonen. Ich erinnere mich auch an Jozef van Wissem, ein Lautenspieler. Ich kannte seine Musik, wusste aber nicht, dass er auch Filmvertonungen macht. Es war unglaublich, was er mit seinem Instrument macht. Sein Lautenspiel ist zeitlos, es hört sich nach Barock an, aber auch sehr modern.
Haben für euch Filme das Potential, eine Utopie zu sein?
AB: Utopie ist ein umkämpfter Begriff, den nicht alle gut finden. Im Team sind wir uns schon einig darüber, dass Film und Kunst wichtig und zu verteidigen sind. Wir glauben an das Potential, dass der Film hat. Das liegt allen voran darin, dass man sich mit anderen Entwürfen, Hintergründen und Perspektiven auseinandersetzen kann, die man vielleicht noch nicht kennt. Kino kann nicht nur eigenen Horizonte, Erwartungen an das Leben bedienen, sondern auch irritieren. Mich selbst herauszufordern, ist meine Motivation, wenn ich Filme schaue, und ich glaube, das brauchen Gesellschaften auch.
SG: Filme sind eine Möglichkeit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, um es platt zu formulieren. Ich bin eher verhalten dabei, zu urteilen, wie groß das utopische Potential von Kino ist und ob es eingelöst wird. Nicht jeder Film, den wir zeigen, ist super politisch. Einige sind auch Eskapismus und ich kann mich gut unterhalten lassen. Wenn es andererseits um die Sichtbarkeit von globalem Kino oder Geschlechtergerechtigkeit, egal wo – ob in der Produktion oder Distribution – geht, haben wir eine Haltung.
Was sind Eure Tipps für das diesjährige Gegenkino-Festival?
SG: Man muss unbedingt ins Milieu-Kino gehen. Dort werden Analogfilme in einem mobilen Kinosaal für 15 Personen gezeigt, der Eintritt ist frei. Obwohl es mir sehr schwerfällt, nur einen Film herauszugreifen, empfehle ich »Background« des syrischen Filmemachers Khaled Abdulwahed. Es ist ein sehr politischer, auch bildpolitisch spannender Film. Er fragt anhand von Manipulationen, was Bilder erzählen können. Zudem hat der Regisseur die komplizierte Kommunikation mit dem Vater filmisch toll auf den Punkt gebracht.
> Gegenkino: 5.–15.9., UT Connewitz, Luru-Kino, Schaubühne Lindenfels, Ost-Passage Theater, Milieukino am Rabet, www.gegenkino.de