Oberbürgermeister Burkhard Jung empfängt mit einem Lächeln in seinem Büro. Doch das weicht schnell, als er mit dem kreuzer über die Ergebnisse der Landtagswahl spricht, über eine SPD-Innenministerin im Bund, die Grenzkontrollen anordnet, und demokratische Parteien, die das Vertrauen der Menschen verlieren. Zweieinhalb Jahre bevor er als OBM abtritt, hat er eine klare Antwort auf die Frage: Hat Leipzig wirklich noch so eine besondere Stellung in Sachsen?
Wie bewerten Sie das Ergebnis der Landtagswahlen – als Privatperson und als Oberbürgermeister, wenn man das überhaupt trennen kann?
Wenn man das Ergebnis so schwarz auf weiß sieht, ist es schon wie ein Schlag aufs Dach. Leipzig ist zwar anders als Sachsen, aber nicht unberührt von der Gesamtentwicklung und Stimmungslage. Die schwappt in die Stadt hinein. Ich bin überzeugt: Was wir hier in Sachsen und Thüringen sehen, ist nur ein Vorgeschmack auf die bundesweite Situation der nächsten Jahre. Das konnte man die letzten Jahre bereits beobachten.
Sie sagen: Leipzig ist anders. Aber wenn man sich die Ergebnisse der letzten Wahlen anschaut und die AfD auch in Leipzig bei der Landtagswahl zweitstärkste Kraft war, gibt es dann wirklich noch einen Unterschied zwischen Leipzig und dem Rest von Sachsen?
Es ist ein Riesenunterschied, ob ich im Stadtrat fünfzehn Prozent AfD habe oder vierzig. Trotzdem: Wenn ich sehe, dass bei der Landtagswahl in Leipzig 19 Prozent AfD wählen, ist das für mich ein Alarmsignal dafür, dass Menschen sich nicht mehr mitgenommen fühlen. Das ist es, was mich am meisten beschäftigt: Wie gewinnen wir wieder Vertrauen in unsere Demokratie zurück? Die Stimmung ist heute eine andere als vor 20 Jahren. Das merkt man auch vor Ort. Oftmals ist der Ton rauer und die Stimmung aggressiver.
Wie ließen sich Menschen wieder mehr von Demokratie überzeugen?
Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, mit direkten Beteiligungsmöglichkeiten gelänge es, die repräsentative Demokratie zu stärken. Am Ende entscheidet Vertrauen, persönlich und menschlich. Wenn Menschen nicht mehr das Gefühl haben, dass ihre Regierung sie vertritt, dann löst man das auch nicht mit Beteiligungsformaten. Wir brauchen eine Vertrauensoffensive.
Sie haben das Scheitern der Asyl-Gespräche zwischen SPD und CDU stark kritisiert.
Da war ich wirklich wütend. Wenn Menschen erleben, dass man in zentralen politischen Fragen nicht kompromissfähig ist, dann versagen die Parteien in der Demokratiegestaltung. Und dann ist das eine Werbeveranstaltung für Blau.
Ist nicht die ganze Art und Weise, wie gerade über das Thema Migration gesprochen wird, eine Werbeveranstaltung für Blau?
Alle lassen sich von rechts treiben. Na klar haben wir Probleme mit der Aufnahme von Geflüchteten und natürlich ist es unbefriedigend, wenn ich Menschen in Zelten unterbringen muss. Aber die erste Botschaft muss doch sein: Wie organisieren wir das human? Wie wollen wir in unserem Rechtsstaat leben? Wie kann ich Menschen, die zu uns gekommen sind, schneller in Arbeit bringen? Wie kann Integration gelingen? Das alles gerät gerade völlig außer Acht, nur weil man tagesaktuell versucht, einer schrecklichen, fürchterlichen Messerattacke in Solingen zu begegnen. Das halte ich für grundfalsch.
Auch in Leipzig ändert sich die Stimmung – zum Beispiel in der Diskussion über die Geflüchtetenunterkunft in Thekla.
Aber das hatten wir doch auch schon, als ich 2001 noch Sozialdezernent war. Es gab immer Ängste und Misstrauen. Aber damit muss man aktiv umgehen und Begegnungen zwischen den Menschen schaffen. Wir alle wissen, wir brauchen Zuwanderung. Auf ganzer Linie fehlen in diesem Land Fach-, aber auch Arbeitskräfte. Aber das wird so schamhaft nebenbei erwähnt, weil die Debatte über terroristische Gefahr und Straffälligkeit von Menschen alles überdeckt. Ich will das nicht verniedlichen. Das ist ein schwieriges Thema, aber es überdeckt und überlagert andere tatsächliche Bedürfnisse dieses Landes.
Seit dem 16. September werden die deutschen Grenzen wieder kontrolliert, angeordnet vom SPD-geführten Innenministerium – mit der Begründung, die Kommunen seien überfordert. Wird da wirklich auf die Kommunen reagiert oder ist das eher Reaktion auf die von rechts getriebene Debatte?
Es ist eindimensional. Wir werden als Städte und Kommunen gehört und ich habe auch kein Blatt vor den Mund genommen, wenn wir überfordert waren. Ich weiß aber, dass die deutschen Städte sehr wohl bereit sind, sich dieser Aufgabe zu stellen, auch wenn Überforderungserscheinungen bemerkbar sind. Wir brauchen als Kommunen Hilfe in der Kita, in der Schule und bei Sprachkursen – darüber muss man viel stärker reden. Es ist viel passiert im letzten Jahr, aber da spricht kein Mensch drüber. Mittlerweile sind 50 Prozent aller ukrainischen Geflüchteten, die überhaupt arbeiten können, in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Das ist der richtige Weg und dazu gehört in der Tat konsequentes Abschieben bei Straffälligkeit. Zur Wahrheit gehört auch: Wir werden mit dem Thema Flucht die nächsten Jahrzehnte leben. Ganze Inseln saufen ab, Bürgerkriege in Afrika, Kriege in Vorderasien. Das hat Folgen. Da kann ich auch nicht so tun, als ob ich das durch Abschottung abwenden kann. Wer das behauptet, sagt nicht die Wahrheit. Das spüren Menschen auch.
Anscheinend wollen viele Menschen aber trotzdem diese Antwort haben.
Wir würden wesentliche Vorbehalte vom Tisch kriegen, wenn Menschen, die zu uns kommen, sich einbringen und schneller arbeiten dürften. Wir haben auch deswegen eine andere Situation in Leipzig, weil wir den höchsten Migrationsanteil in Ostdeutschland haben. Menschen in Leipzig sind es gewohnt, mit anderen Kulturen und Menschen in Kontakt zu kommen. Der persönliche Kontakt ist der beste Weg, um Vorurteile abzubauen. In dem Moment, in dem jemand zu uns kommt nach Leipzig – egal welcher Hautfarbe, welcher sexuellen Orientierung, welchen Geschlechts –, wenn er oder sie sich hier einbringt und wenn Artikel 1 des Grundgesetztes akzeptiert, dann ist sie oder er Leipzigerin und Leipziger. Punkt. Das müssen wir offensiver verkünden, anstatt jetzt den Rechten nachzulaufen.
Hat es Sie je gereizt, in die Landespolitik zu gehen?
Biedenkopf hat gesagt, es gibt zwei wichtige Ämter in Sachsen: Ministerpräsident und Oberbürgermeister von Leipzig. (lacht) Oberbürgermeister und Landrat sind die einzigen Ämter in Deutschland, in die sie direkt von den Menschen gewählt werden, und das ist eine Kraft, die nicht vergleichbar ist mit einem Ministerposten.
2027 treten Sie nach über 20 Jahren als Oberbürgermeister ab. Mit welchem Gefühl tun Sie das, angesichts der großen Herausforderungen, vor denen Leipzig steht?
Ich möchte, dass erhalten bleibt, was wir erreicht haben, dass es auf dem Weg, den die Stadt in den letzten Jahrzehnten beschritten hat und der uns deutschlandweit an die Spitze gebracht hat, weitergeht. Ich möchte, dass Leipzig in Mitteldeutschland diesen Stand behält, eine Stadt zu sein mit europäischer Geltung, mit einer Weltoffenheit und mit einem Freiheitsgedanken. Das, was da an Ergebnissen aus Sachsen kommt, das ist nicht die Welt von Leipzig, sondern wir stehen für etwas anderes. Hoffentlich wird es eine Nachfolge geben, die diesen Weg weitergeht.
Wie abhängig ist Leipzig eigentlich von der Landesregierung in Dresden?
Umgekehrt! (lacht) Was meinen Sie, wie abhängig Sachsen von Leipzig ist. Ganz selbstbewusst gesprochen: In den großen Städten entscheidet sich das Schicksal eines Landes. Weil wir Wachstumsmotoren sind und Zentren der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Und ja: Wir sind auch abhängig in vielerlei Hinsicht von der Entwicklung auf Landesebene, klassischerweise sind das Förderinstrumente. Ich habe die letzten Koalitionsverträge mitverhandeln können, es wäre ein schwerer Schaden für Leipzig, wenn die Perspektive der Großstädte dort diesmal ins Hintertreffen gerät und plötzlich ein Landtag nur noch ländlich ist.
Haben Sie es wirklich so wahrgenommen, dass die Situation der Städte in Sachsen in den letzten Jahren ernst genommen wurde? Es gab CDU-geführte Ministerien, die haben nicht mal den angespannten Wohnungsmarkt in Leipzig als solchen anerkannt.
Der Austausch von Region und Stadt ist sehr wichtig, aber es hat leider auch überzogene Entwicklungen gegeben, wo man dachte, man muss in besonderer Weise ländliche Regionen pushen. Ich kann kein Bundesinstitut auf dem Dorf ansiedeln, und ich kann nicht annehmen, dass große industrielle Sprünge in einem dünn besiedelten Raum möglich sind.
Denken Sie, CDU, SPD und BSW können zusammenkommen?
Das wird spannend. Man wird gar nicht anders können, als zu versuchen, das in einen gemeinsamen Vertrag zu gießen, damit Sachsen sich weiterentwickeln kann. Aber es sitzen natürlich sehr gegensätzliche Ansichten am Tisch. Das darf man auch nicht überstrapazieren.
Können Sie absehen, was das BSW für eine Bedeutung für Sachsen und Leipzig haben wird?
Noch kann ich das nicht; kommunal hat die Haltung des BSW bisher keinerlei Auswirkungen auf unsere Städtepartnerschaft mit Kyjiw und unsere Hilfslieferungen. Da wird es schon interessant, wie sich das BSW verhalten wird, wenn es um den Etat für die Ukraine-Hilfe der Stadt Leipzig geht. Aber bislang ist das BSW ein unbeschriebenes Blatt für mich.
Auf Ihren Wunsch fand die Konstituierung des neuen Stadtrats im Alten Rathaus statt.
Ich wollte gern signalisieren: Im Stadtrat geht es nicht nur um die Abstimmung, ob der Sportverein blaue oder gelbe Socken hat. Sondern auf welchen Schultern wir historisch stehen und um die größeren Linien; darum, wohin sich diese stolze Stadt weiter entwickeln soll. Es ist mein Versuch, die repräsentative Demokratie zu stärken und die Stadträtinnen und Stadträte hervorzuheben.
Wir hoffen, dass Sie im Stadtrat nicht so sehr für die repräsentative Demokratie werben müssen.
Ich habe ja nun einige Wahlperioden hinter mir und der Ton hat sich verändert. Das parteipolitische Gezänk ist stärker geworden, auch bei Sachfragen. Dann braucht es auch nach innen wieder den Ruf: Leute, Achtung! Suchet der Stadt Bestes, um das Alte Testament zu zitieren.
Bei welchen Themen haben Sie sich gewundert?
Es ist nicht verwunderlich, dass es in der Migrationsdebatte emotional wird. Aber wenn dann wirklich faschistoide Äußerungen aus der AfD heraus formuliert werden und in einer respektlosen Art und Weise über Menschen geredet wird, dann hört bei mir die Toleranz auf.
Die Aussagen der AfD haben Sie gewundert?
Nein, das hat mich nicht gewundert, damit habe ich gerechnet. Dass sich dann aber Demokraten und Demokratinnen aus anderen Fraktionen verführen lassen und so im Ton vergreifen, dass ich sie rügen muss – das war eine neue Erfahrung.
Bei Kommunal- und Landtagswahlen haben die Grünen massive Verluste erfahren. Würden Sie sich stärkere Grüne in Sachsen und Leipzig wünschen?
Wir haben ganz große Schnittmengen in den politischen Zielen – in der Verkehrsstrategie, in der Klimaanpassungsstrategie, beim Thema soziale Gerechtigkeit. Aber uns unterscheidet die Art und Weise, wie wir diese Ziele formulieren und wie wir sie versuchen durchzusetzen. Teile der Grünen stehen sich oftmals selbst im Weg bei der Akzeptanz ihrer politischen Ideen. Menschen opponieren, wenn sie das Gefühl haben, moralisch belehrt zu werden. Das ist sicherlich ungerecht im Einzelfall.
Wofür wurde die SPD denn abgestraft?
Auch die SPD muss mehr zuhören. Hinzu kommt der Zustand der Ampel in Berlin. Es sind einige Sachen gut gelungen, es ist viel in Bewegung geraten. Aber wenn man zusammen regiert mit drei unterschiedlichen Partnern, muss man nach außen Linie halten und sich nicht ständig beschimpfen. Nach innen kann man ja streiten. Aber nach außen muss mehr Einigkeit herrschen, und da ist die SPD als stärkste Fraktion und Kanzler-Partei stärker gefragt.
Zuhören ist einer der Kernpunkte von Michael Kretschmers Politik. Macht er das richtig?
Zumindest sind seine Sympathiewerte sehr hoch, das muss man erst mal festhalten. Ich habe ihm öfter den Rat gegeben, nicht auf seine Koalitionspartner einzuhauen und noch stärker Haltung und Linie zu zeigen in den Gesprächen vor Ort.
Hat er Ihren Rat befolgt?
Ich persönlich habe es falsch gefunden, die Grünen als den entscheidenden Feind zukünftiger Politik zu identifizieren. Ich habe ihm geraten, das nicht zu tun. Dem Rat ist er nicht gefolgt.