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Kultur

»Zum ersten Mal war es nützlich, Dichterin zu sein«

Ulrike Draesner erzählt in ihrem neuen Buch von ihrer adoptierten Tochter, von Mutterschaft, Alltagsrassismus und dem Spiel mit Sprache

  »Zum ersten Mal war es nützlich, Dichterin zu sein« | Ulrike Draesner erzählt in ihrem neuen Buch von ihrer adoptierten Tochter, von Mutterschaft, Alltagsrassismus und dem Spiel mit Sprache  Foto: Dominik Butzmann

Die Schriftstellerin Ulrike Draesner ist seit 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. In ihrem neuen, persönlichen Buch »Zu lieben« verarbeitet sie die Adoption ihrer damals dreijährigen Tochter aus Sri Lanka. Ein Gespräch über emotionale Kommunikation, Alltagsrassismus und veraltete Familienbilder.

Wie kam es zur Idee, ein Buch über die Adoption Ihrer Tochter und das Zusammenleben mit ihr zu schreiben?

Ich wollte die Frage aufwerfen, wie wir in Deutschland zukünftig mit Familienkonstellationen umgehen wollen, die nicht dem klassischen bürgerlichen Modell Vater-Mutter-Kind-Kind entsprechen. Ich glaube, dass unsere moralische, geistige, ethische Verfassung dem tatsächlichen Entwicklungsstand in der Gesellschaft und in der Biotechnologie nicht entspricht. Nicht zuletzt müssen wir einen Weg finden, unseren Kindern von ihrer Herkunft zu erzählen, so dass Andersheit dabei nicht als Manko erscheint, sondern als das, was sie ist: eine Bereicherung.

Meine Tochter ist jetzt erwachsen, so wurde die Kindheitsgeschichte erzählbar. Der erste Schritt war, sie zu fragen, ob es für sie in Ordnung ist, wenn ich das Buch schreibe. Ich hätte das nicht getan, wenn sie Nein gesagt hätte. Sie hatte ein absolutes Vetorecht, am Ende habe ich ihr das Manuskript vorgelesen. Es ist schon auch ein gemeinsames Buch.

Empfinden Sie Adoption als eine Art Tabuthema?

Ich glaube, nicht mehr. Es gab eine Zeit, in der man versuchte, vor den Kindern geheim zu halten, dass sie adoptiert sind. Damit sie nicht das Gefühl haben, dass sie nur »second best« sind. Und das zeigt natürlich die ganze Fatalität dieses Denkens. Inzwischen weiß man, dass das sehr schlechte Folgen für die Familie und gerade für die betroffenen Kinder hat. Trotzdem gibt es noch diese Vorstellung, das Kind sei ja »nur« adoptiert, ein nicht- leibliches Kind könne kein »volles« Kind sein. Das Konzept Mutterschaft ist immer noch so stark von Leiblichkeit bestimmt. Wir sollten als Gesellschaft lernen, leibliche Mutterschaft nicht zu fetischisieren – zu unser aller Befreiung und auch für die Vielfalt von Mutterrollen, die wir Frauen anbieten und die wir dringend brauchen. Und wir sollten lernen, leibliche und soziale Mutterschaft oder Elternschaft voneinander zu unterscheiden und zu sehen, dass sie nicht immer Hand in Hand gehen müssen. Wenn wir auf Zeiten mit höherer Kindersterblichkeit zurückblicken, wird deutlich, dass es da jede Menge gemischter Elternschaften gab. Wir leben eigentlich in einem Korsett des Familienbildes, das erst das 19. Jahrhundert erfunden hat.

Wie lief anfangs das Zusammenleben mit Ihrer dreijährigen Tochter, mit der sie noch keine gemeinsame Sprache hatten?

Ein gutes Beispiel ist die rote Ampel. Ich habe ihr in deutschen Worten, die sie sicher nicht verstanden hat, erklärt: Bei Rot bleibt man stehen. Wusch, Wusch, Auto, Knall, Bumm, Aua: Auch diese Lautsprache hat sie vielleicht nicht verstanden. Aber sie ist stehen geblieben an roten Ampeln. Ich glaube, sie hat etwas verstanden von der Geschwindigkeit, aber vor allem von der genuinen Sorge und dem tiefen Ernst in diesem Verbot. Auf einer emotionalen Ebene. Das ist eigentlich die Kommunikation, sie ist körperlich und emotional.

Zum ersten Mal in meinem Leben war es nützlich, Dichterin zu sein. Das ist ja meistens völlig unnütz. Aber da nicht, weil ich natürlich gerne mit Sprache spiele und Laute mache. Einmal ist sie mir fast vor Lachen umgekippt. Sie fand es immer toll, wenn ich schneller und schneller gesprochen und mich dann verheddert habe. Dadurch hat sie viel Sprache gelernt, glaube ich.

Haben Sie sich für das Buch an konkreten Traditionslinien oder Werken des Autofiktionalen orientiert? Das Wort Roman steht durchgestrichen unter dem Titel …

Natürlich kenne ich autofiktive Bücher, angefangen bei Annie Ernaux. Ich bin mit Daniela Dröscher befreundet und habe sehr genau gesehen, wie ihr Buch »Lügen über meine Mutter« entstanden ist. Das und vieles mehr nimmt man natürlich auf. In England, wo ich auch gelebt habe, hatte das life writing immer schon einen anderen Status. Als ich hier als Autorin anfing, war es eher verpönt, aus den eigenen Lebenserfahrungen zu schreiben, aber heute ist das anders. Ich würde nicht über dieses Thema schreiben, hätte ich nicht diese Erfahrung gemacht, weil noch etwas ganz anderes hinzukommt: Das Zusammensein mit meiner Tochter hat mir erst die Augen dafür geöffnet, in was für einer white bubble ich lebte.

Wie meinen Sie das?

Ich dachte, ich sei ein liberaler Mensch und gewiss keine Rassistin, und trotzdem gab es da noch Bestände, die ich gar nicht bemerkt hatte. Meiner Tochter verdanke ich eine Brückenerfahrung. Wenn ich allein auf die Straße gehe, dann bin ich unauffällig, auch für die Menschen, die an so was wie Bio-Deutschtum glauben. In dem Moment, wo ich mit meinem Kind auf die Straße gehe, bin ich aber plötzlich nicht mehr weiß für diese Menschen. Als die Person, die ich nur für mich bin, würde ich mir nicht anmaßen, darüber zu schreiben, was es heißt, als nicht-weiße Person in Deutschland zu leben. Aber durch die enge Verbindung zu einem nicht-weißen Kind, die auch für andere Menschen sichtbar ist, wird man einfach selbst rassistisch beschimpft. Ich möchte diese Erfahrung weitergeben, gerade auch an diejenigen, die so sind und denken wie ich vor der Adoption.

INTERVIEW: ALEXANDRA HUTH

> Ulrike Draesner: Zu lieben. München: Penguin 2024. 345 S., 24 €

> Lesung: 13.11., 19.30 Uhr, Literaturhaus


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