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»Das hat sich seit 2018 eher noch mal gefestigt«

Betroffenen-Berater André Löscher darüber, wie sich rechte Strukturen in Chemnitz entwickeln und wer ihnen etwas entgegensetzt

  »Das hat sich seit 2018 eher noch mal gefestigt« | Betroffenen-Berater André Löscher darüber, wie sich rechte Strukturen in Chemnitz entwickeln und wer ihnen etwas entgegensetzt  Foto: Lord van Tasm, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Schon die Bewerbung als Kulturhauptstadt verband Chemnitz mit den gewalttätigen Ausschreitungen von 2018. Ein Hilferuf an die Kultur: Bei uns stehen Grundwerte unter Druck. Bundesweit bekannte Neonazis griffen damals Gegendemonstrantinnen und -demonstranten sowie Unbeteiligte an. Auch zum Auftakt des Kulturhauptstadtjahres gehen die Rechten wieder auf die Straße: Die in Chemnitz gegründeten Freien Sachsen demonstrieren bei der Eröffnung am 18. Januar. André Löscher berät bei der Regionalen Arbeitsstelle Antirassismus (RAA) seit 2008 Betroffene rechter Gewalt. Er erzählt, wie sie sich damals fühlten, wie sich die rechte Gewalt in Chemnitz entwickelt hat und wer etwas gegen Neonazis in der Stadt unternimmt.


Herr Löscher, die erste Seite des Bewerbungsbuchs der Stadt Chemnitz für die Kulturhauptstadt zeigt eine Ausgabe der New York Times. Die hatte 2018 ins Deutsche übersetzt getitelt: »Mob-Protest in Deutschland zeigt die Stärke der extremen Rechten«. Bei den gewalttätigen Ausschreitungen Ende August und Anfang September 2018 kam es zu vielen rechten Angriffen in der Stadt. Welche Wirkung hatte das?

Rechte Gewalt zielt nicht darauf ab, einzelne Personen zu schädigen. Das sind stellvertretende Angriffe auf eine ganze Gruppe. Deren Wirkung hat sich besonders bei nicht-weißen Menschen in Chemnitz gezeigt. Auch wenn sie nicht direkt von den einzelnen Gewalttaten betroffen waren, waren sie verunsichert.

Inwiefern hat sich das geäußert?

Sie fragten sich: Kann ich mein Kind zur Schule bringen? Wie sicher ist der Weg zur Arbeit? Also alles, was mit Verlassen der Wohnung zu tun hat, war bei vielen mit Angst verbunden. Bei den Beratungen für Geflüchtete oder der Flüchtlingssozialarbeit, unseren Kooperationspartnern, kamen viele gar nicht mehr zu Terminen oder zu Sprachkursen.

Wie haben sich Angriffe von Rechten in Chemnitz denn seit 2018 entwickelt?

2018 waren es besonders viele: 79 Angriffe. Allerdings hatten wir auch im letzten Jahr einen Anstieg von rechtsmotivierter, rassistischer Gewalt, von 14 Angriffen im Jahr 2022 auf 23 Angriffe 2023. Chemnitz kann man als Schwerpunktregion bezeichnen, gerade wenn man die Zahlen bereinigt auf die Einwohnerzahlen in der Fläche betrachtet. Das waren keine organisierten Angriffe, sondern Angriffe im Alltag. Wir haben in Chemnitz nach wie vor sehr starke rechte Strukturen, die sichtbar sind.

Wo zeigen die sich?

Bei den Demonstrationen montags, bei denen junge, kameradschaftsähnlich organisierte Leute inzwischen auch einen Block haben. Die Rechten haben laut Verfassungsschutzbericht in Chemnitz fünf Immobilien in der Hand, etwa das »Zentrum Chemnitz« der Identitären Bewegung, das Bürgerbüro der Partei Freie Sachsen oder der Laden des rechtsextremen Musiklabels PC-Records. Die sind nach wie vor alle sehr gut aufgestellt, bieten Raum, Strukturen und andere Ressourcen. Das hat sich seit 2018 eher noch mal gefestigt. Es sind Strukturen dazugekommen und das wirkt auch sehr sicher.

Was meinen Sie mit »sicher«?

Die leiden unter keinem starken Druck. Es wirkt nicht so, als ob die Stadtverwaltung viele Handlungsspielräume hat, um dem etwas entgegenzusetzen.

Was bedeutet es für die Betroffene von Rassismus, Linke und andere Alternative in Chemnitz, wenn rechte Strukturen sich dort so sicher fühlen?
Das lässt sich für das breite Spektrum von Betroffenen rechter Gewalt nicht vereinheitlichen.

Am 18. Januar, zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs, hat die rechtsextreme Partei Freie Sachsen angekündigt, gegen diese zu demonstrieren. Lässt sich das an dem Beispiel zeigen?

Dabei muss ich betonen, dass Betroffene die Kulturhauptstadt und die Ereignisse darum  in unseren Beratungen nicht direkt thematisieren, aber wir haben dazu Hypothesen aufgestellt. Menschen, die die Kulturhauptstadt wahrnehmen oder sogar Veranstaltungen organisieren, reagieren anders auf so eine Anfeindung oder Präsenz von Nazis. Das liegt unter anderem daran, dass sie von der Kulturhauptstadt wissen: Sie können sich vorbereiten und wappnen, dem rechten Protest etwas entgegenstellen oder bestimmte Orte meiden. Für Menschen, die nichts davon mitbekommen, ist das schwieriger. Zu der Frage, was da passiert, existiert unserer Wahrnehmung nach eine große Wissenslücke in der migrantischen Szene hier in Chemnitz.

Könnte die Stadtverwaltung oder die Kulturhauptstadt da mehr tun?

Aus unserer Sicht muss die Stadt ihr Sicherheitskonzept besser kommunizieren.  Zumindest sollte sie präsentieren, wie sie bei rechten Anfeindungen reagiert – sei es jetzt bei Kundgebungen oder bei einzelnen Angriffen. Das wäre sowohl für die Veranstalter:innen, die internationale Gäste empfangen, als auch für Leute, die die Stadt besuchen wollen, hilfreich. Und eben – nicht zu vergessen – für die Menschen, die in der Stadt leben.

Gibt es in Chemnitz eine Debatte darüber, wie man mit Neonazis umgeht?

Nach der Correctiv-Recherche zum Treffen von Rechtsextremen in Potsdam, hatten wir eine große Demonstration mit fast 10.000 Leuten. Ansonsten ist die Zahl der Personen, die auf die Straße gehen, sehr überschaubar. Es gibt viele Akteure, die etwas gegen Neonazis machen, etwa Chemnitz nazifrei, Aufstehen gegen Rassismus oder Träger der Jugend und Kulturarbeit, wie das AJZ. Auch Clubs wie das Weltecho, das Atomino oder auch das Izda, das für migrantische Selbstorganisation Räume zur Verfügung stellt, halten die Fahne für ein anderes Chemnitz hoch. Ich glaube nicht, dass die von sich sagen würden, dass sie krasse politische Arbeit machen. Aber die machen eine stabile Jugend- und Kulturarbeit. Was öfter sichtbarer sein sollte, ist die Präsenz der vielen Menschen in Chemnitz, die sich klar demokratisch und antifaschistisch positionieren.

Ist der Stadt denn bewusst, wie es Menschen, die Ziele von Rechtsextremen sind, aktuell in Chemnitz geht?

Der Stadt ist das bewusst. Der Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD) war zum Beispiel kürzlich auf einem Podium der Freien Presse, auf dem auch eine Kollegin von uns einen Platz hatte und dort direkt geschildert hat, was sich Betroffene wünschen.

Ist Kulturhauptstadt zu sein jetzt ein Erfolg gegen das rechte Bild von Chemnitz?

Es wird sich erst danach zeigen, wie nachhaltig das ist.
 


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