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Kultur

»All diese Stimmen waren schon unter der Haut«

Dinçer Güçyeter spricht mit Martina Hefter über weibliche Stimmen, Lyrik und Knoblauchwurst

  »All diese Stimmen waren schon unter der Haut« | Dinçer Güçyeter spricht mit Martina Hefter über weibliche Stimmen, Lyrik und Knoblauchwurst  Foto: Palagrafie / Sascha Kokot

Als Thorsten Ahrend Martina Hefter mit den Worten anmoderiert, man habe ja vor wenigen Monaten noch nicht wissen können, dass sie den Deutschen Buchpreis 2024 gewinnen würde, bringt er eine Kaskade der sympathischen Bauchpinselei ins Rollen. »Also, ich wusste es!«, ruft Dinçer Güçyeter rein, worauf Hefter, die sich für den Abend nach eigenen Worten eigentlich »als Moderatorin, ganz streng«, gesehen hatte, fast ein bisschen rot wird. Sie habe auch schon vorher gewusst, dass Gücyeter den Peter-Huchel-Preis 2022 für seinen Lyrikband »Mein Prinz, ich bin das Ghetto« gewinnen würde. Und auch dass der 1979 in Nettetal geborene Autor und Verlagsgründer 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse für sein autobiografisch geprägtes Werk »Unser Deutschlandmärchen« erhielt, dürfte nach dieser Logik höchstens ein wissendes Lächeln auf Hefters Gesicht gezaubert haben.

Es ist ein liebevolles Gespräch unter Kollegen, das sich hier entfaltet. Schade, dass der Saal des Literaturhauses so steril ist, an einem Kneipentisch würden sich Hefter und Güçyeter auch sehr gut machen. Werden dort nicht schließlich die besten Geschichten erzählt? Güçyeter, das wird schnell klar, könnte seine Geschichten auch auf dem Augustusplatz aus einer Riesenradgondel herabrufen. Als Autor, Herausgeber, Verleger und inzwischen auch Gast an Schulen ist er äußerst gefragt, sein Terminkalender sei bis September voll, sagt er, aber er sagt es mit Freude. »Unser Deutschlandmärchen«, vom Verlag mikrotext als Roman betitelt (Hefter bleibt uns die Antwort auf die Frage schuldig, wie sie den Text bezeichnen würde), ist eigentlich eine Sammlung an Erzählungen und Gesprächen, es gibt kleine Theaterszenen und chorische Passagen. Güçyeter sammelt darin die Stimmen seiner Familie und seiner Vergangenheit, beschreibt das von harter Arbeit und kulturellen Konflikten geprägte Leben seiner Mutter und anderer sogenannter Gastarbeiterinnen.

»Als ich ein Kind war, saßen alle Frauen der Sippe jeden Abend bei meiner Oma und klagten bei ihr über alles, worüber sie mit ihren Männern nicht reden konnten. Und ich saß mittendrin. Deshalb wollte ich unbedingt mit weiblichen Stimmen arbeiten«, so Güçyeter. Es sei der Humor gewesen, der die Menschen und Stimmen in seinem Buch vom Aufgeben abhielt, und genau dieser Humor begleitet Güçyeter bei jedem Wort, das er in den gut gefüllten Saal richtet, auch wenn er von seinem verträumten Vater berichtet. »Mein Vater sagte immer: Wir sterben doch alle, warum soll ich arbeiten! Er brachte Sucuk mit, Knoblauchwurst, und wollte sie hier verkaufen. Das ist alles dasselbe. Lyrik, Knoblauchwurst – jeder hat so seine Träume.« Und man möchte lachen und weinen zugleich, wenn Güçyeter von seiner »perfekt integrierten« Mutter erzählt, die jeden Morgen im Garten den Laubbläser schwingt und ihrem Sohn, der zu ihr eilt, um ihr vom Peter-Huchel-Preis zu erzählen, entgegnet: »Zwei Jahre Pandemie. Alle haben den Verstand verloren. Warum geben die dir jetzt einen Preis? Was hast du wieder gemacht?!«

Auch Güçyeter ist ein Träumer. Er berichtet von seinen ersten Gehversuchen als Verleger, wie sein Bruder ihm das Rückfahrticket von der Leipziger Buchmesse besorgen muss, weil er statt den erhofften 60 Lyrikbänden nur drei verkauft hat – zwei davon mit Studentenrabatt. Es sind keine Geschichten vom Scheitern, es sind einfach Geschichten. Hier und da rezitiert Güçyeter aus seinen Gedichtbänden, liest aus »Unser Deutschlandmärchen«, aber schaut dabei kaum einmal ins Buch. Diese Geschichten wohnen in seinem Wesen, unter seiner Haut. Und man verlässt den Saal nicht nur mit einem Lächeln, sondern auch mit der dreist eingeforderten Gewissheit, in diesem doch gar nicht so langen Leben etwas mehr Mut haben zu dürfen. ALEXANDRA HUTH


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