Manchmal soll sich Leipzig ja wie Berlin anfühlen. Hier nicht. »Wer mit dem Auto kommt, kann hier gut parken«, sagt Jens Lehmann, als er vor seinem Wahlkreisbüro steht, in einem ehemaligen Bauernhof direkt am Dorfanger. Die Leipzig-Zentrale des CDU-Bundestagsabgeordneten liegt in Sommerfeld, ganz im Osten der Stadt, eingeklemmt zwischen Paunsdorf-Center und dem Rauschen der A14. Dass Lehmann hier seine Leipziger Basis aufgeschlagen hat, ist kein Zufall. Der Ortsteil Engelsdorf, zu dem Sommerfeld gehört, ist eine der Hochburgen der CDU in Leipzig. Bei der Landtagswahl holte die CDU hier 38,3 Prozent der Zweitstimmen – stadtweit lagen die Konservativen bei 26,3 Prozent.
Mit schnellen Schritten läuft der großgewachsene Bahnrad-Olympiasieger von 1992 vorbei an frisch sanierten Einfamilienhäusern. Es ist der Osten der Stadt, der Lehmann ans Herz gewachsen ist: In Engelsdorf ließ er sich bei der Bahn zum Instandhaltungsmechaniker ausbilden, während seiner Zeit als Radprofi wohnte er in Reudnitz, seine Trauringe kaufte er auf der Eisenbahnstraße. Besonders als Stadtrat, der er seit 2004 ist, verstehe er sich als Kämpfer für »alles, was östlich vom Bahnhof ist«.
In den nächsten Wochen kämpft Lehmann, der mit Platz vier auf der Landesliste ziemlich sicher im nächsten Bundestag sitzt, hier um sein Direktmandat im Bundestag, das er seit 2017 innehat. 2021 verteidigte er es – mit 519 Stimmen Vorsprung vor dem SPD-Kandidaten Holger Mann. Dass es noch mal ein Zweikampf zwischen Lehmann und Mann wird, danach sieht es aktuell nicht aus. Mann profitierte damals vom Ergebnishoch der SPD, das auch Olaf Scholz ins Kanzleramt katapultierte. Die Sozialdemokraten steigerten sich bei den Zweitstimmen im Leipziger Norden von 12,9 Prozent aus dem Jahr 2017 auf 21 Prozent, landeten damit vor AfD, Grünen und CDU (alle um die 15 Prozent). Überträgt man aber die Zweitstimmenergebnisse der Landtagswahl aus dem letzten Jahr in den Ortsteilen auf die Bundestagswahlkreise, sieht es eher nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD aus: CDU (27,2 Prozent) und AfD (21,8) lagen weit vor Linken, BSW, SPD und Grünen, die alle bei rund zehn Prozent landeten. Allerdings profitierten die Konservativen bei der Landtagswahl stark von einer Zuspitzung des Wahlkampfs auf das Duell mit der AfD. Viele, die früher noch SPD, Linke, Grüne oder gar nicht wählten, gaben der CDU ihre Stimme, um einen Wahlsieg der Rechtsextremen zu verhindern. Fraglich, ob diese Zuspitzung auch bei der Bundestagswahl wirken wird.
Zurück in seinem Büro, spricht Lehmann lieber über sich selbst. Im Bundestag wüssten alle, dass er aus Leipzig komme: »In Berlin sage ich immer, ich bin Leipzig-Lobbyist«, erzählt Lehmann, der mit dem Wort Lobbyismus wenig Probleme habe. Spricht man ihn darauf an, dass er mit seiner Partei nicht immer auf Linie liege, verweist er stolz auf seine Unabhängigkeit als direkt gewählter Abgeordneter: »Ich lege schon Wert darauf, dass ich auch als Person gewählt werde, nicht nur als Parteisoldat.« So sei er zwar kein Freund von ausschließlich Elektromobilität, wolle aber »mehr in die Schiene investieren«. »Mehr Staat steht jetzt nicht bei uns im Programm«, ergänzt er lächelnd. »Aber die Schieneninfrastruktur und die Bahn gehören zur Daseinsvorsorge und sollten beim Staat sein.«
Ein Herzensprojekt Lehmanns sind die Olympischen Spiele 2040: »Für Leipzig und ganz Deutschland wäre das ein Riesenschub.« Auch auf den zweiten Citytunnel von Ost nach West hofft Lehmann. »Ohne Olympiabewerbung wird dieser auch irgendwann gebaut werden, aber wahrscheinlich werde ich das dann nicht mehr erleben.« Mit der Bewerbung löse man auch langfristig die infrastrukturellen Herausforderungen in der Stadt.
Die Bürowände des 57-Jährigen sind gefüllt mit Fotos seiner Lebensstationen als Radprofi, Horterzieher und Politiker. Lehmann neben Stanislaw Tillich, Lehmann mit Angela Merkel. Von Friedrich Merz hängt hier noch kein Bild. Warum der Kanzlerkandidat der Union oft als unsympathischer Millionär gilt, verstehe Lehmann aber nicht: »Ich bin überzeugt, dass er es kann und aus einem inneren Antrieb kandidiert.«
An der Wand hängt noch ein weiteres Bild: Lehmann vor einem Panzer. Im Bundestag sitzt er im Verteidigungsausschuss, auch, um Unternehmen aus der Verteidigungsindustrie nach Sachsen zu holen. »Von den vielen Milliarden Euro sollte auch ein gewisser Prozentsatz nach Sachsen gehen.« Für Görlitz könnte sich Lehmanns Einsatz nun auszahlen: Der Rüstungskonzern KNDS möchte an der polnischen Grenze gepanzerte Fahrzeuge herstellen und warten. Auch die Bundeswehrstandorte in Delitzsch und der Oberlausitz konnten erweitert werden. Für den Verteidigungspolitiker Lehmann wird es aber gerade in Sachsen zunehmend schwerer, mit Waffenlieferungen an die Ukraine Wahlkampf zu machen.
Lehmann muss sich damit gegen die Selbsternannte Friedenspartei bewähren. Sascha Jecht, der ebenfalls im Stadtrat sitzt, kandidiert für das BSW im Leipziger Norden. Auf Platz eins der BSW-Landesliste steht zudem der umstrittenen Leipziger Journalistik-Professor Marcel Machill. Die AfD tritt im Leipziger Norden mit Christian Kriegel an, der auch im Stadtrat sitzt. Sowohl CDU als auch AfD waren bei den letzten Wahlen in den Leipziger Außenbezirken stark, egal ob in Plattenbau- oder Einfamilienhaussiedlungen. Doch beide Parteien konnten bei den Landtagswahlen auch im mittleren Ring rund ums Stadtzentrum zulegen. Die Haltung zum Krieg wird somit zu einer der Konfliktlinien, an denen sich die Mobilisierung von Stimmen entscheiden wird.
Wie sehr das Thema potenzielle Wählerinnen und Wähler umtreibt, spürt Lehmann nicht zuletzt im eigenen Freundeskreis: »Ich war auch am Anfang des Krieges deutlich gegen Waffenlieferungen, habe meine Meinung nach den Kriegsverbrechen in Butscha aber revidiert.« Lehmann sieht sich als Vermittler. Im Bundestag müsse er das besondere Verhältnis vieler Ostdeutscher zu Russland verteidigen, in Leipzig eher die Wichtigkeit einer starken NATO.
Ein Neuling für die Grünen
Nördlich des Stadtzentrums denkt auch Stanislav Elinson über den russischen Angriffskrieg nach. Der 40-Jährige versinkt mit seinen Schuhen im matschigen Weg des Leipziger Auwalds, als er über seine Motivation spricht, in die Politik zu gehen. Denn Elinson ist Politik-Neuling, erst seit 2020 Mitglied der Grünen und jetzt deren Direktkandidat für den Bundestag. Seit Kriegsbeginn fühlt er sich in seiner Parteiwahl bestätigt, denn »die zentralen außenpolitischen Entscheidungen der Bündnisgrünen in der Ampel-Regierung unterstütze ich ohne Einschränkung.« Das Agieren der Grünen, die als einstige Friedenspartei inzwischen zu den lautesten Forderern von Waffenlieferungen an die Ukraine gehören, zeige, dass die Führungspersönlichkeiten »bereit sind, Dinge zu lernen, und das auch tun«.
Seine Politisierung erlebt Elinson, der 2002 als Kontingentflüchtling aus Russland nach Leipzig kam, während der Pandemie. »Da dachte ich mir: So, jetzt sind die Kinder etwas größer und du kannst noch was anderes machen als Arbeit und Familie – und diesem Land etwas zurückgeben.« Vor allem der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft beschäftigt ihn: »Dass wir unser Sachsen den Rechtspopulisten und Rechtsextremen überlassen«, sei für ihn keine Option. Er möchte sich gegen die AfD engagieren, entscheidet sich gegen CDU und FDP – die er bestimmt auch schon mal gewählt habe – und meldet sich bei den Bündnisgrünen. Der einfache, digitale Zugang und die »offene, hierarchiearme Diskussionskultur« überzeugen ihn, und so bleiben die Grünen die »erste und einzige Partei, die ich ausprobiert habe und die mich sofort begeistert hat«. Im Sommer kandidierte Elinson bereits für den Landtag, ohne Erfolg, aber »ehrlich gesagt hat der Wahlkampf Spaß gemacht«. Für den Bundestag rechnet er sich etwas mehr Chancen aus. Dabei geht Elinson als klarer Außenseiter ins Rennen. Wirklich stark sind die Grünen in Leipzig nur im Stadtzentrum – und dort teilen sich die Hochburgen wie Zentrum-Nordwest oder Südvorstadt ungünstig zwischen den beiden Bundestagswahlkreisen auf. In den Außenbezirken holten die Grünen bei der Landtagswahl teilweise nur Ergebnisse im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Das starke Abschneiden 2021 im Leipziger Norden – die Grünen steigerten sich damals um 8,4 auf 15,5 Prozent – war auch Ausdruck einer Wahl, die deutlich stärker von Klimafragen bestimmt war als die diesjährige.
Steht natürlich im Wald: Der Grüne Stanislav Elinson
Während Elinson über die Parthe in Richtung seines Büros läuft, betont er die Relevanz des Auwaldes nicht nur als Naherholungsgebiet, sondern auch als zusammenhängendes Biotop, das es zu erhalten und teilweise auch wiederherzustellen gelte.
Der Wirtschaftsinformatiker ist Geschäftsführer einer Softwarefirma und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Wirtschaft der sächsischen Grünen. Elinson lobt die Ansiedelung des DHL-Hub Leipzig im Jahre 2008 und möchte Industriegebiete unter anderem durch bessere ÖPNV-Anbindungen attraktiver machen. Zudem müsse die Energiewende vorangetrieben werden, auch, um unabhängiger von anderen Ländern zu sein. Nicht nur beim generellen Nachtflugverbot, um einer potenziellen Abwanderung von DHL nach Prag entgegenzuwirken, sondern auch für ein gemeinsames europäisches Asylsystem sieht er »die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Lösung«. Menschenwürdige Verfahren und ein humanitärer Umgang mit Flüchtenden sind ihm wichtige Ankerpunkte seiner außenpolitischen Einstellung.
Innenpolitisch beschäftigt Elinson die Krankenhausreform. Man könne zwar von Karl Lauterbach halten, was man will, dennoch vertraue er ihm bei diesem Thema. Demnach gebe es in Deutschland einfach zu viele Krankenhäuser und da müsse angefangen werden zu sparen. Aber dennoch ist für Elinson klar: »Effizienz ist nicht verkehrt. Wir müssen auf die Kosten achten, aber bei Gesundheit hört es irgendwann auf, da geht es um mehr.« Fragt man ihn, wo seine Partei in der letzten Legislaturperiode etwas mehr hätte geben können, fällt Elinson direkt das Heizungsgesetz ein – eins der Reizthemen der Ampel-Legislatur – und er räumt ein: »Der ursprüngliche Entwurf war nicht zu Ende gedacht und nicht praktikabel. Und das ist unser eigenes Verschulden.«
Mann kann ja hoffen
Die Ampel beschäftigt auch Holger Mann. Zu einem Kaffee würde er nicht nein sagen, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete, als er sein Pappschälchen vom Mittagessen in den Müll wirft. Heute jagt ein Medientermin den nächsten. Wer für das Scheitern der einst als Fortschrittskoalition angetretenen Ampel verantwortlich ist, steht für Mann fest: »Um es beim Namen zu nennen: Christian Lindner hat nicht nur das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und des Kanzlers missbraucht, sondern planvoll am Scheitern der Bundesregierung gearbeitet. Ich hätte der FDP gewünscht, dass sie die Kraft für einen neuen Spitzenkandidaten gehabt hätte – hatte sie nicht.« Der SPDler hat daher klare Grenzen, was eine mögliche erneute Regierungsbeteiligung seiner Partei angeht: Die einzigen möglichen Regierungspartner seien die Union und die Grünen. Die FDP habe sich mit diesem Führungspersonal mindestens für eine Legislatur als Koalitionspartner disqualifiziert.
Seit der Bundestagswahl 2021 sitzt Mann im Bundestag, nicht über das Direktmandat, aber über die Landesliste. Vor vier Jahren stand er dort auf Platz eins, dieses Jahr hat es nur noch für Platz zwei gereicht. Zufrieden ist er trotzdem mit seiner Platzierung. Dass auf einer zumindest bis Platz sieben paritätisch gebildeten Liste – danach folgen nur noch Männer – die Landesvorsitzende auf Platz eins lande, sei für ihn eine Selbstverständlichkeit, alles andere »eine Ego-Show, und da bin ich nicht der Mann für«. Der erneute Einzug in den Bundestag ist auf Platz zwei sehr wahrscheinlich, das Direktmandat zu gewinnen, wäre aber trotzdem schön, sagt Holger Mann: »Zum einen wäre es eine Anerkennung der Arbeit, die man in den letzten Jahren geleistet hat, und gleichzeitig ein Vertrauensvorschuss. Eine Legislatur ist ja immer auch eine Bewährungsprobe. Zum andern wird man aber auch ganz anders wahrgenommen, in der eigenen Fraktion und in der Öffentlichkeit.«
2021 fehlten Mann nur 519 Stimmen, um Jens Lehmann das Direktmandat abzunehmen. Die Stärke der SPD waren damals die Ergebnisse in den Außenbezirken oder Plattenbauvierteln wie Schönefeld-Ost, wo die Sozialdemokraten Ergebnisse von fast 30 Prozent einfuhren. Der Einbruch zur Landtagswahl war umso fataler: Minus 17 Prozent in Schönefeld-Ost, Minus 16 in Paunsdorf oder Mockau-Nord – alles Ortsteile, in denen die AfD auftrumpft.
Und noch ein Mann, diesmal ein Holger (SPD)
Wie damit umgehen? »Wenn man verarscht werden will, dann wählt man AfD«, sagt Mann. Sein Ziel sei nicht, überzeugte AfD-Wähler zu bekehren, viele seien sowieso schon zu weit in ihrer Blase. An alle anderen richte sich seine Arbeit zu Hause, in Leipzig eben. Er wolle sich in seiner monatlichen Sprechstunde im Parteibüro »Jedermanns« Zeit für die Menschen nehmen und ihnen zuhören.
Nicht nur um jeden Prozentpunkt, sondern auch für die Demokratie müsse mehr denn je gekämpft werden. Diesen Kampf will Holger Mann annehmen, indem er in jede Diskussion geht. Und dann ist er auch optimistisch, dass die SPD ein Ergebnis »mit einer 2 vorne erreichen kann. Und hoffentlich auch wieder als stärkste Kraft.« Zumindest ihre Kernwählerschaft im Zentrum, wo die SPD zwischen 2021 und 2024 relativ stabil blieb, und das Wählerpotenzial, das sich bei der letzten Bundestagswahl auch außerhalb des Zentrums zeigte, geben Anlass zu Hoffnung.
Impulse aus seinem Wahlkreis will Mann auch in der nächsten Legislatur vor allem wieder im Bildungsausschuss einbringen. Bildung, Manns Kernthema, könne nur durch Teilhabe und damit eine funktionierende Demokratie geschaffen werden. Mann will in Berlin aber auch originär ostdeutsche Themen in die Parlamentsdebatten einbringen. Bei Themen wie Rentengerechtigkeit oder Ausbau und Förderung von Kultureinrichtungen müssten alle ostdeutschen Abgeordneten »ungesehen der Koalitionsfarben zusammenstehen«.
Damit meint er auch die Linke. Für deren »Mission Silberlocke« hat Mann allerdings etwas Spott übrig. Dass die Linke mit Gregor Gysi (77), Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66) die »ältesten Politiker des Landes« ins Rennen schicke, um mit drei Direktmandaten den Einzug in den Bundestag zu sichern, spreche seines Erachtens nicht gerade für einen progressiven Charakter der Partei.
Der Straße treu
Keine Silberlocke ist Nina Treu. Die Direktkandidatin der Linken im Leipziger Norden steht im »Interim«, dem Abgeordnetenbüro und Stadtteilzentrum ihrer Partei im Leipziger Westen, an einer Siebträgermaschine und macht Kaffee. In einer Ecke liegen Spielsachen für Kinder, auf einem Tisch Mullbinden, in einem Regal lagern zwei Boxen mit leeren Weinflaschen. Im Eingangsbereich stapeln sich die frisch gedruckten Wahlplakate für die kommende Bundestagswahl, die in zwei Tagen in der ganzen Stadt aufgehängt werden.
So, wie das hier kein typisches Parteibüro ist, ist auch Treu keine typische Parteipolitikerin. Ihre politischen Wurzeln liegen in der Zivilgesellschaft und dem Engagement jenseits des Parlaments. Seit über zwanzig Jahren setzt sich die studierte Sozial- und Rechtswissenschaftlerin vor allem für Klimagerechtigkeit ein und verbindet ökologische und soziale Anliegen. Dabei scheut sie die großen Fragen nicht, fordert eine nachhaltige Wirtschaft und ein gutes Leben für alle. Vor vierzehn Jahren hat sie in Leipzig das Konzeptwerk neue Ökonomie mit gegründet, ein Think Tank, der den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft voranbringen will. Danach war sie kurze Zeit bei Greenpeace. Sie vertritt damit den bewegungsorientierten Flügel der Linkspartei. Nun tritt sie zum zweiten Mal als Direktkandidatin im Wahlkreis Nord für den Bundestag an.
Der Linken bleibt die Nina Treu
2021 konnte Treu den Zweitstimmen-Einbruch der Linken um 6,9 auf 12,6 Prozent nicht verhindern. Bei den Erststimmen holte sie immerhin noch 15,3 Prozent (minus 4,2). Im Gegensatz zu SPD und Grünen konnte die Linke bei der Landtagswahl 2024 allerdings in einigen Ortsteilen Gewinne im Vergleich zu 2021 verzeichnen – rund ums Zentrum, in Lindenau, Volkmarsdorf oder Neustadt-Neuschönefeld. In den beiden letzteren Ortsteilen mobilisierte Nam Duy Nguyen mit seiner Haustürwahlkampf-Kampagne so stark, dass er das Direktmandat holte – und zusätzlich Zweitstimmenergebnisse um die 40 Prozent. Dass die Linke im gesamten Leipziger Norden trotzdem nur 12 Prozent holte, zeigt die Schwäche in anderen Ortsteilen, besonders in den Außenbezirken.
Zudem gibt sich Treu realistisch: Der Haustürwahlkampf der Linken wird sich auf den Leipziger Süden und Sören Pellmann konzentrieren. Im Wahlkreis Nord wird vor allem auf Infostände und ein geplantes Winterfest gesetzt, um die Menschen zu erreichen.
Die Frage, wieso sie den Schritt von der Straße ins Parlament gehen will, kommentiert sie mit einem Lächeln. Für eine Veränderung der Gesellschaft brauche es viele Kräfte, soziale Bewegungen, Gewerkschaften und eben auch eine linke Partei, die diese Anliegen vertritt: »Die Linke steht dafür, dass es eine Verbindung gibt zwischen Bewegung und Parlament und dass Positionen aus der Zivilgesellschaft in die Politik getragen werden. Genau in dieser Schnittstelle sehe ich mich.« Dass sie selbst noch einmal antritt, hat aber auch pragmatische Gründe, wie sie ganz offen zugibt: Nachdem sich die Partei mit der Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht gerade erst gespalten hat und die vorgezogene Wahl sehr kurzfristig kommt, habe es keine Zeit gegeben, neue Kandidaten aufzubauen: »Wir brauchen jemanden aus dem Stand, der total schnell liefern kann. Und da ist jemand mit Erfahrung und Zeit und der oder die schon einmal einen Wahlkampf durchführte, die richtige Person.«
Nina Treu tritt als einzige Frau im Wahlkreis Nord an und hofft, dass das ein »Pluspunkt« für sie ist. Inhaltlich setzt sie auf klassische soziale Themen. Sie fordert einen effektiven Mietendeckel und die Vergesellschaftung von Wohnungsgesellschaften mit über 3.000 Wohnungen. Der Flughafenausbau in Halle/Leipzig soll gestoppt, mehr in öffentlichen Nahverkehr investiert und bundesweit ein Sozialticket eingeführt werden. Auch wenn sie bei der letzten Wahl auf Platz vier im Wahlkreis gelandet ist, findet sie ihre erneute Kandidatur »nicht aussichtslos«. Ihr größter Vorteil sei ihr klares sozial-ökologisches Profil, ist sie überzeugt: »Man kann mein Profil jetzt mögen oder nicht mögen, aber man kann es zumindest gut erkennen. Man weiß, wofür ich stehe.« Diese Klarheit vermisst sie bei den meisten übrigen Kandidaten: »Bei Jens Lehmann weiß ich außer Radsport nicht so wirklich, wofür er steht.«
Trotz aller Widrigkeit sieht Treu nach der Abspaltung des BSW und dem letzten Bundesparteitag, bei dem der Vorsitz und Vorstand neu gewählt wurden, ein »Aufbruchmoment« in ihrer Partei. Es sei wichtig, dass die Linke in den Bundestag kommt, da nur sie konsequent soziale Gerechtigkeit thematisiere und mit ihren parlamentarischen Anfragen etwa zur Anzahl rechtsextremistischer Straftäter die Regierung kontrolliere. Für Treu ist aber auch klar, dass sie ihre politischen Ziele in Zukunft weiterverfolgen wird, unabhängig vom Ausgang der Wahl: »Ich bleibe aktiv in der Linken und der Zivilgesellschaft und setze mich weiterhin für meine Themen ein. Auch ohne Mandat.«
MAXIMILIAN BÄR, MARTIN BURKERT, ALEXANDER BÖHLE, LEON HEYDE, HANNAH KATTANEK, FREDERIK MALLON, JULIAN PIETZKO