Natürlich kann man nach Chemnitz fahren, zum Nischl aufblicken und sich klein fühlen. Aber seit dem 9. November kann man dort auch das Gegenteil erleben. Man kann sich auf dem Brühl im Eisice einen Kaffee kaufen, sich mit einer Zigarette neben die Skulptur auf die Bank aus Stein setzen und mit Freunden reden. Justin Sonder wird zuhören. »Das hat er schon zu seinen Lebzeiten gemacht«, sagt Julia Kausch. Die Rostocker Bildhauerin hat die Bronzeskulptur geschaffen. Weil Sonder im November 2020 gestorben ist, musste sie sich bei Youtube einen Eindruck von dem Chemnitzer Ehrenbürger verschaffen und sich bei denen erkundigen, die ihn kannten: »Da hab ich immer wieder gehört, wie er sich für seine Zuhörer interessiert hat. Dieses Zuhören muss ihm mindestens genauso wichtig gewesen sein, wie seine eigene Geschichte zu erzählen.« Für die Idee zur Skulptur sei das entscheidend gewesen: »Er sitzt, stützt seine Ellenbogen auf die Knie und hört aufmerksam zu.«
Als 17-Jähriger wurde Justin Sonder im Februar 1943 von der Gestapo festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Ihm wurde die Häftlingsnummer 105027 auf den Unterarm tätowiert. Er überlebte 17 Selektionen und mehrere Todesmärsche, bevor er am 23. April 1945 im bayrischen Wetterfeld von der US-Army befreit wurde. In Hof traf er seinen Vater wieder – seine Mutter und 21 seiner Verwandten waren ermordet worden. Sonder ging noch 1945 zurück in seine Heimatstadt Chemnitz, wurde 1947 Kriminalpolizist und leitete von 1956 bis 1985 das Kripo-Dezernat für schwere Verbrechen. Mehrere Jahrzehnte lang konnte er nicht über seine Erlebnisse aus der Nazi-Zeit sprechen. Als er schließlich doch damit anfing, hörte er nicht wieder auf, war in und um Chemnitz als Zeitzeuge vor allem in Schulklassen unterwegs und erzählte im typischen Chemnitzer Sächsisch von seinen Erlebnissen. »Er war dabei völlig undramatisch«, sagt Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz-Komitee in Berlin: »Er war zugewandt und fragte gern seine jungen Gesprächspartner aus, bevor er seine Geschichten erzählte. Das kam gut an. Er ließ sich auch gern erklären, wer Justin Timberlake und Justin Bieber sind – schließlich waren die beiden der Hauptgrund dafür, dass die Kinder seinen Vornamen grundsätzlich in der englischen Version aussprachen.« Irgendwann habe er dann so was wie: »Passt auf euch auf!« gesagt. Passt auf, dass ihr euch nicht eure Zukunft vermasselt. Oder dass die neuen Nazis nicht eure Zukunft vermasseln. Am Ende seines Lebens habe Justin Sonder – sich selbst und seine Zuhörer – öfter gefragt: »Was habe ich erreicht?«. Genauso heißt jetzt sein Denkmal.
Christoph Heubner ist dessen Initiator. In seiner Rede zur Denkmalsenthüllung im November verwies er darauf, dass die Idee, eine Skulptur auf eine Bank zu setzen, nicht neu ist: So erinnern zwei Bänke in Liverpool und Prag an den britischen Geschäftsmann Nicholas Winton (1909–2015), der 1939 im deutsch besetzten Prag 669 jüdische Kinder rettete – und viele Jahrzehnte nicht darüber sprach. Und am Strand von Ipanema in Rio de Janeiro gebe es ein solches Denkmal für den Lyriker Carlos Drummond de Andrade (1902–1987). Für den bescheidenen Justin Sonder sei eine solche Bank auch eine gute Variante gewesen. »Nach dem ersten Video auf Youtube hat mir das sofort eingeleuchtet«, sagt Julia Kausch. Sie erzählt auch von einem besonderen Segen, der auf dem Projekt liege: In der Gießerei bei Rostock, wo die Skulptur entstanden ist, sei das Lager abgebrannt, trotzdem hätten sie den Termin halten können. Julia Kausch hatte die Idee, ihre Figur auf eine 2,70 m lange Bank aus hellem Krensheimer Muschelkalk zu setzen. Als sie dafür den Chemnitzer Steinmetz Till Apfel um Unterstützung bat, schüttelte der den Kopf: »So einen Block hatte ich noch nie gesehen – diesen Stein gibt es eigentlich nicht in dieser Größe.« Doch Julia Kausch hatte Glück: Zwei Wochen vor ihrer Anfrage im Steinbruch in Franken hatten die Männer dort tatsächlich so einen seltenen Monolithen brechen können.
Wenige Tage vor der Einweihung wurden die das Denkmal noch verhüllenden weißen Planen mit »TNT« beschmiert – was als Forderung nach dessen Sprengung gelesen werden könnte. Zeugen wurden gesucht. Riesenaufruhr. Uwe Dziuballa winkt ab. Der Inhaber des benachbarten jüdischen Restaurants und Mitinitiator des Denkmals hat in Chemnitz schon ganz andere Anfeindungen erlebt. »Natürlich kann man damit rechnen, dass die Rechtsextremen dieses Denkmal nicht einfach hinnehmen werden«, sagt er. »Aber die Nachbarschaft wird aufpassen.« Holm Krieger nickt. Er wohnt seit 2013 hier, ist Mitbegründer der Wohngenossenschaft Brühlpioniere und blickt aus seinem Fenster direkt auf das neue Denkmal. Er kennt die Straße noch als viel besuchte Bummelmeile zu DDR-Zeiten und hat auch ihren Verfall miterlebt: »Inzwischen sind aber viele Fördergelder in den Brühl geflossen«, sagt er. »Jetzt geht es tatsächlich langsam wieder aufwärts mit dem Kiez.« Für den Fall der Fälle hätten sich die Brühlpioniere schon mit entsprechenden Putzmitteln ausgestattet.