Nicht nur auf Leipzig bezogen scheint die Umlaufbahn von Tarwater, des (Ost-)Berliner Duos Ronald Lippok und Bernd Jestram, eine weit gestreckte Ellipse zu sein. Zuletzt vor Ort waren sie 2015 im Werk 2, mit dem damals aktuellen Album »Adrift«, dem Ende 2024 im maßvollen Zehnjahresabstand das wunderschöne »Nuts of Ay« folgte, welches es am Freitag im UT Connewitz zu präsentieren gilt. Dort waren sie zuletzt 2012 und rücken nun in einen länger schon angekündigten Abend mit Joanna Gemma Auguri nach, deren fragil-emotionaler Dunkel-Post-Punk irgendwo zwischen Portishead und Cocteau Twins elegisch in die Referenzräume hallt. Es gilt einen noch weiter gesteckten Zyklus zu feiern, denn Tarwater sind 2025 im dreißigsten Jahr der Existenz angelangt. Wobei 1995 zudem auch Gründungsjahr von To Rococo Rot war, wo Ronald Lippok mit seinem Bruder Robert und Stefan Schneider von Kreidler eher minimalistisch-experimentelle Postrock-Konstrukte rein instrumentaler Art baute. Dabei handelte es sich aber um relativ nahtlose Übergänge, die zugleich Neuansätze waren.
Die Gebrüder Lippok waren seit 1983, je nach Quelle eventuell aber auch 1984, Kern-Keimzelle der stilistisch wie in der Besetzung stets flexiblen Post-Punk-Formation Ornament & Verbrechen, die 1995 in eine Pause ging und erst ab Mitte der 2000er gelegentlich wieder »in Kraft getreten« ist, wie Ronald Lippok es einmal umschrieb. Zuletzt am 13. Februar im Hamburger Bahnhof mit großem Aufmerksamkeitsauflauf, eingeladen von der Künstlerin Andrea Pichl, die ihrerseits die erste Solo-Show einer Künstlerin ostdeutscher Provenienz im berufenen Ort hat und begeistert die Nebelmaschine bediente, während die Lippoks, ihrerseits ja auch als bildende Künstler unterwegs, Freiform-Versionen skelettierter alter Stücke und großzügig krachende Groove-Collagen performten.
Auch wenn ihre Beziehung ganz familiär natürlich eine längere ist - Bert Papenfuß (RIP) konstatierte dazu in seinem »Fratelli Lippok« -Gedicht, dass »Bruderzwist could never happen« - die musikalische Kooperation von Ronald Lippok und Bernd Jestram setzt noch früher an. Nämlich bei Rosa Extra, der wohl wichtigsten Art Punk-Band der frühen DDR-Szene, formiert aus einem von Bert Papenfuß erdachten Zwischenstufenprojekt des Jahres 1979, das zumindest für Papenfuß »Der Schwarze Kanal« hieß und ein eigenwilliges Konzeptgebräu aus FDJ-Singebewegung und eben (Proto-)Punk-Energie darstellte. Bernd Jestram war hier Bass spielendes Gründungsmitglied, Ronald Lippok einer der wechselnden Drummer der Band, die 1983 mittels Stasi-Druck aus der legendären »eNDe. DDR von Unten«-LP fiel und sich 1984 zwangsweise zu Hard Pop umbenannte. Beim mittels Einstufungsverfahren erfolgten Schwenk auf den steinigen Weg der Legalisierung waren sie eine der ersten aus dem dann Ex-Underground. Die Hard Pop-Version des kriegerischen Stalin-Folkpop-Stücks »Katjuscha« war jedenfalls nicht umsonst Eingangssound jeder »Parocktikum«-Sendung, der 1986 anlaufenden Show des Jugendradios DT64, die sich solchen Schrägsounds verschrieb.
1986 allerdings verließ Bernd Jestram die frustrierenden DDR-Verhältnisse und wechselte auf die andere Seite der Mauer nach Kreuzberg. Zuvor aber ließ er dem Rosa Extra-Ausstieg die Gründung von Aufruhr zur Liebe folgen, die gerade mit einer Werkschau-LP bei Edition Tapetopia gewürdigt werden. Außerdem erfolgte 1984 mit Ronald Lippok die Gründung des ersten DDR-Underground-Kassettenlabel Assorted Nuts, das natürlich illegal agierte, mit schön gestalteten Kleinstauflagen, angelegt auf Tausch, nicht auf Verkauf. Die enge Kooperation der beiden setzte dann auch sofort wieder an, als der System-Schutzwall sie nicht mehr behindern konnte. Vor allem bei Ornament & Verbrechen, die vom Industrial-Rock zu einer Röhrenradio-Acid House-Version schwenkten und kurz darauf mit fast schon lounge-jazzigen Post-No Wave-Songs überraschten. Aber auch in anderen Umfeld-Formationen wie Iron Curtain Peep Show, Bleibeil oder Novemberklub. Projekthaftes Gewusel war aber auch schon vor dem Mauerfall eine präferierte Fortbewegungsart, daher sei dringend noch auf Corp Cruid I und The Local Moon verwiesen, die in der changierenden Besetzung oft in etwa Ornament & Verbrechen entsprachen und jeweils die Stimme von Ronald Lippok übertrugen. Auch deren Hinterlassenschaft wurde in den letzten Jahren via Edition Tapetopia zugänglich gemacht.
Eine Generallinie, die sich von Rosa Extra über all die Erwähnten bis zu Tarwater zieht, ist der vertonende Umgang mit ausgewählter Poesie. Von zeitgenössischer Experimentallyrik der Prenzlauer Berg-Szene wie Bert Papenfuß, mit dem Ornament & Verbrechen 2009 beim Zweitages-Event »Ihr habt es nicht anders gewollt« auf Leipziger Theaterboden performten, oder Stefan Döring über Beat-Poeten wie Bob Kaufmann bis zu William Blake oder John Donne - sozusagen von Punk-Rock bis Barock. Auf »Nuts of Ay« sind es Texte von Milner Place und Derek Jarman, zu denen sich noch Song-Lyrics von Jean Kenbrovin, Shane MacGowan und John Lennon reihen. Illuster ist aber auch die Kooperationsliste: von Carsten Nicolai aka Alva Noto, der zudem das Album gestaltete, über Masha Qrella und Schneider TM bis zum trompetenden Schauspieler Lars Rudolph, dessen ebenfalls die DDR durchquerender musikalischer Weg mit Bands wie KIXX oder Stan Red Fox leider etwas in Vergessenheit gerutscht ist.
Real auf der Bühne des UT Connewitz begleitet werden Tarwater - wie schon beim großen Auftritt Mitte Januar im Theater Hebbel am Ufer - vom Visualisierungskünstler Lillevan, der mit seiner würdigen Rahmung quasi die Record Release-Party darstellte - oder eben die Geburtstagfeier, ohne dass dies in Erwägung gezogen oder gar erwähnt worden wäre. Mit Lillevans improvisierten Farb- und Form-Wallungen wird der Auftritt zum synergetischen Spektakel, im Wechselwirkungsspiel mit dem hypnotischen Tarwater-Sound aus minimalistischer Rhythmik, krautig fließenden Basslines, sanfter Psychedelic-Note, Klangdetailfreude und so cool distanziert wie eindringlich performter Poesie. Das sollte nicht verpasst werden, denn die nächste Gelegenheit könnte in relativ weiter Ferne liegen, wenn sich der angedeutete Tarwater-Kreislauf gesetzmäßig verhält.
> 28.02., 20 Uhr, UT Connewitz