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»Das war der Punkt, an dem ich nicht mehr konnte«

Der öffentliche Dienst ist am Limit – darunter leiden nicht nur die Beschäftigten

  »Das war der Punkt, an dem ich nicht mehr konnte« | Der öffentliche Dienst ist am Limit – darunter leiden nicht nur die Beschäftigten  Foto: Verdi

Wenn Chantal Weiße über ihre Arbeit spricht, ahnt man die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet: »Ich komme immer etwas früher zur Arbeit, damit ich mehr Zeit für die Kinder habe«, erzählt sie. Die ausgebildete Erzieherin betreut Kinder mit Behinderungen in einer Wohngruppe in Grünau. »Ab Minute eins brauchen sie die volle Aufmerksamkeit.« Zu Weißes täglichen Aufgaben gehört es, morgens die Kinder zu wecken und sie für die Schule vorzubereiten. Daneben die Hintergrundarbeit: Ferienplanung, Gespräche mit Schulen, dem Sozialamt, Vormündern, dem Allgemeinen Sozialen Dienst. Manchmal muss sie die Kinder auch tagsüber betreuen, wenn sie von der Schule suspendiert werden. »In letzter Zeit kommt das häufiger vor«, weil die Schulen oft zu wenig Kapazitäten und Personal hätten, um für alle Kinder richtig da sein zu können. Weißes Job macht das noch anstrengender.

Zur Entlastung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen fordert die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bei den laufenden Tarifverhandlungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten mehr Geld und Freizeit. Konkret will Verdi eine Lohnerhöhung von acht Prozent, mindestens aber 350 Euro im Monat durchsetzen – 200 Euro mehr für Auszubildende, Zuschläge für besonders belastende Tätigkeiten sowie drei zusätzliche Urlaubstage und einen freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder.

Nachdem in den ersten beiden Gesprächsrunden noch keine Einigung erzielt werden konnte, will die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor der dritten Verhandlungsrunde am 14. März den Druck mit weiteren Streiks erhöhen. »Über kurz oder lang droht ein Kollaps, wenn jetzt nicht gehandelt wird«, kritisiert der Gewerkschaftsvorsitzende Frank Werneke zur Lage in den Kommunen.

 


 

Einzelne federn Personalmangel ab

Weil die Kommunen immer mehr Aufgaben übernehmen – etwa im Gesundheitswesen oder bei der Integration von Geflüchteten –, ohne dass der Bund das nachhaltig kompensieren würde, seien viele Kommunen schon jetzt am Limit, kritisiert der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Die parteiunabhängige Interessenvertretung verweist in einer Stellungnahme darauf, dass auch aufgrund des akuten Personalmangels »die Grenze des Leistbaren vielerorts erreicht« sei. Demnach fehlen bis zum Jahr 2030 rund 230.000 Beschäftigte. Laut Verdi sind schon jetzt 500.000 Stellen in den Kommunen unbesetzt – bei insgesamt 1,7 Millionen Beschäftigten, wie aus Zahlen des Innenministeriums fürs Jahr 2023 hervorgeht.

Die Konsequenzen bekommen Beschäftigte wie Chantal Weiße und Julia George zu spüren. George arbeitete in der Wirtschaftlichen Jugendhilfe der Stadt Leipzig, bis sie sich vor einem Jahr wegen der Überlastung auf eine andere Stelle bei der Stadt bewarb. Sie war unter anderem dafür zuständig, Anträge auf Kostenerstattung für Kinder und Jugendliche zu prüfen, die in Heimen untergebracht sind. Wenn es da hakt, geraten viele Hilfsangebote und Einrichtungen in finanzielle Schwierigkeiten. »Die Kolleginnen und Kollegen geben sich größte Mühe, den Laden am Laufen zu halten«, sagt sie. »Aber man kann das nur bis zu einem gewissen Punkt schaffen. Teilweise sitzen sie zwischen ihren Aktenstapeln und wissen nicht, wohin damit.«

Das kann schwerwiegende Folgen haben. Das Jugendamt muss etwa Anträge für die Erstattung bestimmter Kosten wie Schulranzen oder Lernmaterialien prüfen. »Wenn die Anträge nicht bearbeitet werden, kann es sein, dass ein Kind mehrere Wochen keinen Ranzen hat.« Um das zu verhindern, müssen die Träger der Heime das Geld vorstrecken. Die aber könnten das nicht dauerhaft stemmen, sagt George.

Auch bei den städtischen Trägern herrscht Personalmangel, wie Sozialarbeiterin Weiße aus eigener Erfahrung erzählt. Zwar habe das Arbeitspensum bei ihr in der Wohngruppe zuletzt etwas abgenommen, weil Auszubildende im Personalschlüssel nicht mehr mitgerechnet werden und mehr Fachpersonal eingestellt wurde. Dennoch seien die Dienste häufig unterbesetzt – insbesondere in der Ferienzeit. »Seit September musste ich immer alleine arbeiten«, klagt sie. »Das war der Punkt, an dem ich nicht mehr konnte.« Weiße ist derzeit krankgeschrieben, wobei zwar die Arbeit nicht der Auslöser war. »Aber sie hat dazu beigetragen, dass es schlimmer wurde«, sagt sie. Und so geht es nicht nur ihr: Von den fünf neuen Fachkräften, die seit Juni eingestellt wurden, sei noch eine da. »Für die Kinder und Jugendlichen sind die häufigen Beziehungswechsel nicht gut«, sagt die Erzieherin.
 

Strukturelle Probleme bleiben

Neben Lohnerhöhungen und mehr Urlaubstagen fordert Verdi auch bessere Möglichkeiten, Überstunden abzubauen. Etwa über das sogenannte Meine-Zeit-Konto, auf dem die Mehrarbeit gutgeschrieben und später ausgezahlt werden soll. Beschäftigte könnten sie für eine kürzere Wochenarbeitszeit oder eine Freistellung für die Kinderbetreuung beziehungsweise Pflege einsetzen. »Für mich spielt das im Moment keine Rolle. Aber es ist schon attraktiv, wenn man länger in Elternzeit, früher in Rente oder in Altersteilzeit gehen möchte«, sagt Stadt-Angestellte Julia George zu der Forderung. »Vielleicht bringt es etwas«, mutmaßt auch Sozialarbeiterin Weiße. »Aber es ändert nichts am strukturellen Problem.« Da sind sich beide einig.

Vielmehr stehen Unterfinanzierung der Kommunen, Personalmangel und Einkommenseinbußen durch die Inflation der letzten Jahre im Vordergrund. Die Teuerungsrate hat sich zuletzt wieder etwas normalisiert, aber die Preise bleiben hoch: Für Lebensmittel gibt man seit 2020 knapp 33 Prozent mehr aus. »Ich weiß manchmal gar nicht, wo ich noch sparen soll«, sagt die alleinerziehende Mutter George, die ebenso wie Sozialarbeiterin Weiße in Teilzeit arbeitet.

Gemessen an vielen anderen Jobs sind die tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen nicht schlecht, wenn es etwa um Jobsicherheit oder Urlaubsregelungen geht. Doch laut Verdi-Vorsitzendem Frank Werneke reicht das nicht aus. Es geht vor allem darum, »attraktiver zu werden und Personal zu gewinnen«. Darum seien die Lohnsteigerungen und weitere Verbesserungen notwendig, unterstreicht er. Das Einstiegsgehalt in den Entgeltgruppen von Weiße und George liegt bei einer Vollzeitstelle zwischen 3.400 und 3.600 Euro – und damit etwas unter dem Medianlohn in Deutschland von knapp 3.650 Euro. Das bedeutet, dass eine Hälfte der Bevölkerung mehr verdient, die andere Hälfte weniger.
 

Milliardenloch der Kommunen

Die Forderungen der Gewerkschaft weist die Vereinigung Kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA), die gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) für die Arbeitgeberseite verhandelt, als unverantwortlich zurück. Denn daraus folgten Mehrkosten von 15 Milliarden Euro, teilt die VKA mit. »Das würde die Kommunen überfordern«, kritisiert Niklas Benrath, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung.

Das hat auch damit zu tun, dass die Wirtschaftsflaute in Deutschland die kommunalen Finanzen hart trifft. Die Einnahmen steigen zwar derzeit nominell, aber langsamer als die Ausgaben. Neben der Gewerbesteuer erhalten die Gemeinden einen Anteil an der Einkommens- und Umsatzsteuer, der aber aufgrund der schleppenden Wirtschaftsdynamik geringer ausfällt als in den Jahren zuvor. Demgegenüber stehen steigende Ausgaben, insbesondere im sozialen Bereich, erklärt Katja Rietzler vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).

Und so fehlt vielen Kommunen Geld, das dringend gebraucht wird, etwa für Investitionen. Aus dem aktuellen Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) von 2024 geht hervor, dass die kommunalen Finanzen bundesweit mit einem Defizit in Höhe von 6,8 Milliarden Euro deutlich überlastet sind. Der Investitionsrückstand in der Infrastruktur summiert sich laut KfW auf rund 186 Milliarden Euro – Tendenz steigend. In Leipzig klafft laut Angaben der Stadt für den Doppelhaushalt 2025 und 2026 eine Finanzierungslücke von rund 110 Millionen Euro, die vor allem aus Mindereinnahmen aus dem sachseninternen Finanzausgleich resultiert. Die Verhandlungen darüber sind noch nicht abgeschlossen. Vor dem Hintergrund beschloss der erweiterte Finanzausschuss der Stadt, dass ab 2027 etwa 500 Stellen in der Verwaltung abgebaut werden sollen. Derzeit arbeiten knapp 9.500 Menschen für die Stadt Leipzig.

Insgesamt ist die Lage in den Kommunen heterogen und fällt je nach Wirtschaftskraft und Arbeitslosenquote aus, gibt Rietzler vom IMK zu bedenken. Der Bund müsse sich insgesamt stärker an der Finanzierung der Sozialausgaben beteiligen, ist die Finanz- und Steuerexpertin überzeugt.

Sozialkürzungen, wie sie momentan auch diskutiert werden, wären aus Julia Georges Sicht fatal: »Was passiert denn mit den Kindern und Jugendlichen, wenn keine Hilfen mehr bewilligt werden?« Sie kämen aus der Sozialhilfe nicht raus und würden das auch an ihre eigenen Kinder weitergeben. »Man muss die Ursachen bekämpfen und die verschwinden nicht, wenn man die Mittel kürzt«, warnt sie. »Wir wollen, dass die Kinder und Jugendlichen Vertrauen ins Amt entwickeln können und dass sie nicht denken, wir seien der Feind. Aber das geht nur ohne Überlastung«, betont George.


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