»Dass du Post Covid hast, sieht man dir gar nicht an!« Ein Satz, den Rocco Thiere oft zu hören bekommt. Und tatsächlich sieht der 48-jährige Sozialarbeiter auf den ersten Blick kerngesund aus, er lächelt viel, seine Augen blicken freundlich hinter der kleinen runden Brille hervor. Doch seit knapp eineinhalb Jahren steht sein Leben auf dem Kopf. Nach seiner dritten Corona-Infektion im November 2023 habe der dreifach Geimpfte gemerkt, dass etwas nicht stimme. »Ich wollte mit dem Fahrrad auf die Arbeit fahren und musste dabei mehrere Pausen machen, ich habe geschwitzt wie verrückt und als ich angekommen bin, habe ich gesagt: Ich ruh mich jetzt hier aus, dann schaue ich, dass ich wieder nach Hause komme und gehe zum Arzt.«
Rocco Thiere hat Glück, sein Hausarzt hat bereits Erfahrung mit Post-Covid-Erkrankten und vermutet die Diagnose auch bei ihm. »In der ersten Krankheitsphase ging es mir erstmal immer schlechter«, erzählt Thiere, »Ich brauchte nur fünf Minuten rauszugehen und sofort war die Erschöpfung in einem Ausmaß da, das ich bisher nicht kannte.« Sein Arzt rät ihm zu Pacing, einer Technik, die es Erkrankten erlaubt, mit den eigenen Kräften besser zu haushalten. Betroffene versuchen dabei, kräftezehrende Alltagsaktivitäten, wie beispielsweise einkaufen oder fernsehschauen, bewusst mit Pausen, also gezieltem Nichtstun, abzuwechseln, um Überlastungssituationen zu vermeiden. Konkret geht es also darum, sich die eigenen Energiereserven gut einzuteilen. »Damit konnte ich als ehemaliger Leistungssportler etwas anfangen«, meint Thiere. Sechs Jahre schwimmen und viele Jahre Radsport gehörten für den Leipziger früher zum Alltag. Heute sei das nur noch sehr eingeschränkt bis gar nicht möglich. Stattdessen muss er sich an sein neues Leben gewöhnen.
»Ich musste die Notbremse ziehen«
»Ganz lange war da auch eine Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens und so dieses Gefühl von: Das muss doch gehen!« Dabei sieht es am Anfang erstmal gut aus. Die Pacing-Methode schlägt an und Thiere schöpft neue Hoffnung. Im Frühjahr 2024 unternimmt er einen Wiedereingliederungsversuch bei seiner alten Arbeitsstelle, dem ambulanten Team des Caritas Kinder- und Jugenddorfes Markkleeberg. Dort hatte er vor seiner Krankheit unter anderem straffällig gewordene Jugendliche begleitet und Erziehungsbeistand geleistet. Eine Arbeit, die er immer sehr gerne gemacht habe. Doch als er nach einigen Wochen versucht, wieder Vollzeit zu arbeiten, verschlechtert sich sein Zustand radikal. »Ich musste die Notbremse ziehen und seitdem bin ich raus.«
Von jetzt an beginnt für ihn eine Odyssee zu verschiedenen Ärztinnen und Ärzten. Pulmologen, Kardiologen und Neurologen sucht er auf, doch niemand findet die Ursache für seinen extremen Erschöpfungszustand. Damit bestätigt sich der anfängliche Verdacht seines Hausarztes: Thiere ist am Post-Covid-Syndrom erkrankt, oft auch als Long Covid bezeichnet. Laut der Weltgesundheitsorganisation fallen darunter verschiedene gesundheitliche Langzeitfolgen, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion stehen und nicht durch andere Diagnosen erklärt werden können. In der Regel treten die Symptome drei Monate nach der Infektion auf und dauern länger als zwei Monate an. Das Krankheitsbild kann bei Betroffenen dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Über 200 Post-Covid-Symptome listet die Weltgesundheitsorganisation. Dazu zählen etwa Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder das chronische Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), dessen Ursachen laut dem Robert Koch Institut bis heute ungeklärt sind. Auch Thiere ist von ME/CFS betroffen. Sein Hausarzt vermittelt ihn nach der Diagnose an ein dreiwöchiges Tagesklinikprogramm in der kognitiven Neurologie der Uniklinik Leipzig. Dort lernt er mehr über die Krankheit und den Umgang damit. Aber vor allem trifft er andere Post-Covid-Betroffene und fühlt sich zum ersten Mal verstanden. »Ich hatte selbst ganz lange Schwierigkeiten, das zu verstehen und auch wenn mir vorher jemand von Post Covid erzählt hat, war das für mich nicht greifbar«.
Um das alte Leben kämpfen
Heute ist er selbst auf der Seite der Erzählenden. Wie ein Infekt, der ständig in einem arbeitet, fühle sich die Krankheit an. Dinge, die früher leicht von der Hand gingen, führten jetzt zu völliger Überforderung und Erschöpfung. Da reiche manchmal schon ein Gespräch. Außerdem funktioniere das Denken nicht mehr so gut. Wie Nebel im Kopf sei das.
In einer Selbsthilfegruppe für Post-Covid-Erkrankte trifft er regelmäßig auf Menschen mit sehr unterschiedlichen Leidensgeschichten. Einige Betroffene könnten nicht mal an den Treffen teilnehmen, da sie bettlägerig seien und in abgedunkelten Räumen leben müssten. Der Austausch fände dann nur über den Signal-Chat der Selbsthilfegruppe statt. Die Sorge, dass auch sein Zustand sich dauerhaft verschlechtern könnte, sei die ganze Zeit da. Auch er habe schon die Erfahrung gemacht, wie sich ein Rückschlag anfühlt. »Jeder von uns Betroffenen ist schon in diese Überlastungssituationen gegangen, weil jeder ein stückweit um sein altes Leben kämpft.« Zum jetzigen Zeitpunkt ist Thiere arbeitsunfähig und muss Frührente beantragen. Auch über solche Aspekte spricht er mit anderen Betroffenen in der Selbsthilfegruppe. Dieser Austausch sei für ihn sogar noch entscheidender als die medizinische Unterstützung. »Es gibt nun mal nicht das Wundermittel«, weiß Thiere, da habe man ihm auch damals in der Tagesklinik keine falschen Hoffnungen gemacht. Stattdessen müsse man eigene Wege des Umgangs finden und sich immer wieder klar machen »Ich schaffe das!«
Betroffenen glauben
Manchmal fantasiert er darüber, wie es wäre, mit anderen tauschen zu könne
n. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Vor allem Ärztinnen und Ärzten würde er gerne vermitteln, wie sich die Krankheit anfühlt, um mehr Verständnis zu bekommen. »Ich würde dann aber nicht mehr zurücktauschen wollen« lacht Thiere. Es ist ein bitteres Lachen, denn er wünscht die Krankheit niemandem. Auch nicht denjenigen, die Corona-Erkrankungen oder die Auswirkungen der Pandemie bis heute leugnen. Wer glaube, das alles sei nicht so schlimm, solle sich mit Betroffenen von Post Covid auseinandersetzen. Was er sich von der Gesellschaft wünsche, sei in erster Linie, dass Betroffenen uneingeschränkt geglaubt werde. Die Akzeptanz und Unterstützung, wie er sie durch sein enges Umfeld erfahre, sei eine große Hilfe. Das Wichtigste sei jedoch die Selbstakzeptanz gewesen. »Je mehr ich mich unter Druck gesetzt habe, desto schlimmer wurde es.« Statt sich auf die negativen Auswirkungen zu konzentrieren, wolle er nun versuchen, den Blick auf die Dinge lenken, die noch möglich sind.
In Thieres Wohnzimmer hängt ein Kranz aus getrockneten Blumen. Darin steckt eine Karte mit der Aufschrift »Freude wählen«. Die Geschenke von seinen Freunden sollen ihn regelmäßig an die schönen Dinge erinnern. Es seien Kleinigkeiten wie Lesen, Spaziergänge in der Natur oder die Zeit mit seinem 13-jährigen Sohn, die ihm Hoffnung geben. Vom Obergeschoss seiner Maisonettewohnung aus könne er morgens den Sonnenaufgang und abends den Sonnenuntergang sehen, erzählt Thiere mit leuchtenden Augen. Das sei ihm jede kräftezehrende Treppenstufe wert – solange das Treppensteigen eben noch möglich ist.
Am 15. März ist internationaler Long Covid Awareness Day. Der Tag soll mehr Sichtbarkeit auf Post/Long Covid lenken und Betroffenen zu Anerkennung verhelfen. Die Bundesregierung schätzt die Zahl der Post/Long Covid Betroffenen in Deutschland sechsstellig – genaue Angaben könne man zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nicht gesichert machen. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit weichen die Ergebnisse verschiedener Studien zu dem Thema stark voneinander ab, da sie unter anderem zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt wurden.
Mehr Informationen für Betroffene gibt es hier:
> Initiative Long Covid Deutschland: https://longcoviddeutschland.org/ueber/
> BMG-Initiative Long COVID: https://www.bmg-longcovid.de
> Long COVID / Post COVID Selbsthilfegruppen in Leipzig: https://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/gesundheit/selbsthilfe/selbsthilfegruppen-und-vereine
> LONG-COVID-Studie Universitätsklinikum Leipzig: https://www.uniklinikum-leipzig.de/einrichtungen/life/life-erwachsenenkohorten/long-covid-studie