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Kultur

»Die Namen sind nur die Schatullen der Dinge«

Pedro Carmona-Alvarez über seinen neuen Roman und wie ihn seine Geschichten finden

  »Die Namen sind nur die Schatullen der Dinge« | Pedro Carmona-Alvarez über seinen neuen Roman und wie ihn seine Geschichten finden  Foto: Eva Lene Gilje Østensen

Erinnerung, Geschichte, Nostalgie, Kindheit: Dies sind einige der Fixsterne, um die sich das schriftstellerische Schaffen von Pedro Carmona-Alvarez dreht. Weil sein Vater politisch verfolgt wurde, musste er mit zehn Jahren aus seinem Geburtsort Chile fliehen und kam nach Norwegen. Ab 1997 veröffentlichte Carmona-Alvarez Gedichtbände, Essays und Romane. Sein neuer Roman »Chiquitita«, der in diesem Jahr auf Deutsch erscheint, beginnt mit Marisol, die mit ihrem Freund in einem Museum steht und angesichts des Gemäldes eines versinkenden Hundes zusammenbricht. Ihr Freund bittet Marisol, ihm von ihrer Vergangenheit inmitten von Flucht, Trauma, Gewalt und dem Ankommen in einem fremden Land zu berichten.

Warum ist das Bild des sinkenden Hundes ein solcher Trigger für Marisol?

Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube auch nicht, dass sie sich dessen bewusst ist. Es ist einfach eines dieser Dinge, die manchmal passieren, wenn man jemand ist, der vielleicht eine Verbindung zur Kunst hat. Manchmal hört man einfach ein Lied oder sieht ein Gemälde oder liest einen Satz oder ein paar Worte und sie erreichen einen auf eine gewisse Weise. Es ist dann so, als ob man all seinen Schutz, all seine Sicherheiten, all seine Intellektualität verliert.

 

Alle Sicherheiten des Alltags.

Ja, alles. Viele der Gefühle, die sie durchlebt, sind Scham, weil sie ihrem Freund nicht alles erklären kann. Und sie fragt sich: Warum berührt mich dieses Bild so sehr? Liegt es daran, dass ich der sinkende Hund bin? Bin ich mein ganzes Leben lang gesunken? Ich habe Goyas Gemälde schon immer gemocht, ich habe sie geliebt. Aber als ich anfing, diese Geschichte zu schreiben, musste ich einfach ihrer Stimme und ihrer Wahrnehmung folgen. Und plötzlich tauchte sie in diesem Museum auf, sah es und brach zusammen. Und das passiert, wissen Sie. Ich habe mir heute Morgen einen Song angehört, eine wunderbare kanadische Band namens »Alvvays«, die ich gerade erst zu hören begonnen habe. Und sie haben dieses Lied namens »Marry Me, Archie«. Es ist ein einfacher Song, ein Popsong, aber er hat mich so berührt. Und ich dachte mir: Scheiße, das muss ich meiner Frau vorspielen, ich muss es der Welt zeigen.

 

Warum hat niemand außer Marisol und ihren drei Freunden einen Namen?

Wenn man ein Trauma erlebt hat, so wie sie, dann fragen die Leute einen immer nach Dingen, aber unter ihren ganz eigenen Bedingungen. Marisol muss in die Schule gehen und über ihr Heimatland sprechen. Und sie muss über das Essen aus ihrer Heimat sprechen und den Namen des Generals und den Namen des Präsidenten und den Namen des Landes. Und als Kind ist sie dem ausgeliefert. Aber als sie erwachsen wird, sagt sie: »Die Namen sind nicht das, worum es in meiner Geschichte geht, denn die Namen sind nur wie die Schatullen, das Äußere der Dinge.« Aber dieser innere Schmerz und dieses innere Trauma sind in gewisser Weise namenlos. Und es ist auch viel allgemeiner. Denn wenn man sagt, Chile 1973 oder Berlin 1945, dann hat man eine ganze Menge Historizität, die mit der Geschichte verbunden ist. Aber was ist mit all den Erfahrungen, die nicht genannt werden? Was ist mit den Erfahrungen, die innerlich sind und die in gewisser Weise visuell sind? Sie will über kopflose Körper und gefolterte Körper sprechen und darüber, was das mit ihr gemacht hat. Und ich glaube, dass das Buch auch von mir verlangt hat, es nicht in Chile anzusiedeln und das Land nicht Norwegen zu nennen, nicht dieses Narrativ zu bedienen. Ich wollte, dass es etwas nebulöser ist.

 

Ich habe das Gefühl, dass die Welt nicht so viel Zeit hat für Dinge, die keinen Namen haben, ihnen nicht so viel Raum zugesteht. Bücher sind eine Möglichkeit, sie wieder sichtbar zu machen.

Ich denke, das ist wahr. In Romanen sind die Erfahrungen in gewisser Weise fließender und nicht so präzise.

 

Was tun Sie, wenn Sie Schwierigkeiten haben, die Stimme einer Ihrer Figuren zu hören?

Ich gehe woanders hin. Ich versuche, eine andere Stimme zu hören. Ich versuche nie, sie zu zwingen – niemals. Ich bin mit der Fähigkeit gesegnet, viele Dinge gleichzeitig zu tun. Ich habe meine Romane, meine Gedichte, ich habe meine Übersetzungen, meine Essays, ich habe meine Musik, meine Texte, mein Gitarrenspiel, mein Schlagzeug. Die Arbeit mit Tönen ist ein fantastischer Job. Ich tauche ein in die Welt des Klangs und lerne, wie man ihn verändern und manipulieren, was man von ihm lernen kann. Das kommt meiner Arbeit als Dichter am nächsten. Sound und Poesie sind für mich sehr, sehr eng miteinander verwoben. Mein ganzes Leben dreht sich darum. Mein Leben ist relativ klein. Aber innerhalb dieser Kleinheit gibt es sehr große Möglichkeiten der Bewegung. Wenn ich also gegen eine Wand stoße, drehe ich mich einfach um und gehe woanders hin. Und plötzlich vergehen Wochen oder Monate oder sogar Jahre, dann gehe ich zurück, und die Mauer ist weg. Es ist vielleicht eine Frage der künstlerischen Geduld. Man kann immer ein Buch schreiben wollen. Aber man sollte nie ein Buch schreiben, das man schreiben will. Man sollte ein Buch schreiben, das man schreiben kann. Für mich ist »Chiquitita« ein Buch, das ich zu dieser Zeit schreiben konnte. Das klingt romantisch oder mystisch, und das ist es auch in gewisser Weise. Wenn man mit Leuten spricht, die Songs machen und Bücher schreiben, sagen fast alle dasselbe. Man macht etwas, aber man ist auch eine Art Antenne oder ein Rezeptor für etwas. Ich denke, das ist ein Teil der Arbeit, die man macht. Ich versuche, das jeden Tag zu nähren: Wie kann ich mein Leben so leben, dass ich für die Dinge, die mir begegnen, so empfänglich wie möglich bin? Denn wenn man zu beschäftigt ist, kann man sie leicht übersehen oder überhören. Sie gehen einfach an einem vorbei, weil man zu sehr mit diesem oder jenem beschäftigt ist. Ich warte einfach ab. Und wenn sie nie wiederkommen, hat das auch einen Grund.
 

> Pedro Carmona-Alvarez: Chiquitita. Kolon 2023. 186 Seiten. Bisher ist das Buch noch nicht auf Deutsch erschienen. 


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