Am 19. April 1945 verschickt der Nachrichtendienst der US Army eine interne Meldung, die sich liest wie das Finale eines Hollywood-Films. Eingeleitet von einem ironischen »So sorry« wird berichtet, der Direktor einer Leipziger Panzerfaustfabrik habe kürzlich seinem Leben mit einer »ziemlich theatralischen Abschiedsgeste« ein Ende gesetzt. Er habe seine engsten Vertrauten zum Dinner geladen, den Raum vermint und nach dem Essen alle gemeinsam in die Luft gejagt. Obwohl der Bericht als vertraulich gilt, findet sich die Story sofort in der US-Presse wieder und wird dort um weitere Details – Berge von Kaviar, Zigarren, Champagner und einen geheimen Knopf unter dem Tisch – angereichert. Die Zeitungen stellen das Geschehen in einen Zusammenhang mit den Suiziden der Stadtspitze im Leipziger Rathaus beim Einmarsch der US-Armee.
Wenngleich die reißerischen Artikel stark dramatisieren, liegt eine reale Begebenheit zugrunde: Kurz bevor die US-Armee in Leipzig eintraf, endete dort die Geschichte des größten sächsischen Privatunternehmens, der Hugo Schneider AG (HASAG), mit einem gewaltigen Knall. Während des Krieges war aus dem Leipziger Lampenhersteller ein Rüstungsimperium mit zahlreichen Zweigwerken geworden, mit zehntausenden ausländischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern. In firmeneigenen Lagern im besetzten Polen waren tausende Jüdinnen und Juden an den Arbeitsbedingungen gestorben oder nach Selektionen ermordet worden. Im letzten Kriegsjahr betrieb die HASAG mehrere Außenlager des KZ Buchenwald, unter anderem in der heutigen Kamenzer Straße in Leipzig.
Als die US-Armee am 11. April 1945 das Hauptlager Buchenwald befreit, sind hundert Kilometer weiter östlich die Leipziger KZ-Außenlager noch unter der Kontrolle der SS. Einen Tag später verfasst der Generaldirektor der HASAG, SS-Obersturmbannführer Paul Budin, sein letztes Dokument – einen Zusatz zu seinem Testament, um seinen Nachlass zu regeln. In der Nacht des 13. April 1945 sprengt er sich mit seiner Frau im Verwaltungsgebäude der HASAG in die Luft; mindestens zwei weitere Angestellte kommen ums Leben, mehrere werden verletzt. Wahrscheinlich werden bei der Detonation, die einen Schaden von damals geschätzten 300.000 Reichsmark verursacht, große Teile des Firmenarchivs vernichtet – bis heute sind nur Fragmente davon überliefert.
Am selben Tag werden die Frauen-KZ-Außenlager in Leipzig geräumt. Der Großteil der Gefangenen wird von den Wachmannschaften auf sogenannten Todesmärschen quer durch Sachsen getrieben. Zurück bleiben nur die schwächsten Häftlinge, die bis zum Eintreffen der US-Armee auf sich allein gestellt sindIm HASAG-Werk brechen chaotische letzte Tage an. Nach eigener Darstellung versucht eine kleine Gruppe deutscher Antifaschisten, den Betrieb zu übernehmen, während sich ausländische Zwangsarbeiter zum Schutz bewaffnen und es zu Plünderungen kommt. Als die US-Amerikaner am 18. April Leipzig einnehmen, gibt es Konflikte zwischen den Kommunisten im Werk und den US-Soldaten, die natürlich selbst die Kontrolle über die Waffenschmiede sicherstellen wollen.
Parallel dazu machen die GIs unweit der HASAG eine grauenhafte Entdeckung: Beim »Massaker von Abtnaundorf« sind wenige Stunden zuvor in einem KZ-Außenlager der Erla-Werke in Leipzig-Thekla mehr als 80 Häftlinge durch Feuer und Schüsse ermordet worden. Journalistinnen und Angehörige der US-Signal-Corps machen zahlreiche Film- und Fotoaufnahmen der entstellten Leichen; die Bilder gehen um die Welt und werden später in den Nürnberger Prozessen gezeigt. Im Schatten dieses Medienereignisses wird einen Kilometer entfernt in diesen Stunden das Frauen-KZ der HASAG in Leipzig-Schönefeld befreit. Bis heute ist jedoch kein einziges Foto, kein schriftliches Dokument zur Entdeckung dieses Lagers bekannt. Erst drei Tage später dokumentiert ein »Concentration Camp Situation Report« die Verhältnisse: Von ursprünglich 5.000 Gefangenen wurden 232 Frauen in schlechtem Gesundheitszustand vor Ort angetroffen. Die Krankenstation war überfüllt, Nahrungsmittel und Medizin waren knapp. Die entkräfteten Frauen sollten alsbald in Leipziger Hotels untergebracht werden.
Widersprüchlich war auch die Rezeption des Kriegsendes bei der HASAG: Die Firmenleitung in Person des Generaldirektors entzog sich mit einer heftigen Detonation der Verantwortung für die begangenen Verbrechen, riss viele Beweise mit sich. Gerüchte, Budin habe seinen Suizid nur vorgetäuscht, beschäftigten die Stasi in den fünfziger Jahren und halten sich bis heute. Dagegen hinterließ die Befreiung hunderter Häftlinge im KZ-Außenlager der HASAG kaum Spuren in den Archiven und ist auch in der städtischen Erinnerung wenig präsent. Das bei der Explosion beschädigte HASAG-Verwaltungsgebäude wurde nach dem Krieg rekonstruiert und ist als Denkmal eingetragen – das erhaltene ehemalige Hauptgebäude des KZ-Außenlagers hingegen nicht. Es gilt heute als »rechtsextremistisch genutzte Immobilie«.
Unter den dort befreiten Häftlingen war die 29-jährige Jüdin Anna Kurz aus dem polnischen Biecz. Sie brachte am 13. April 1945, als der Todesmarsch begann und das HASAG-Gebäude explodierte, ganz in der Nähe im KZ-Außenlager ein Kind zur Welt – ihre Tochter Estare. Ihr Leben begann, als der Krieg in Leipzig endete und der Rüstungskonzern, der ihre Mutter jahrelang versklavt hatte, unterging.
Estare Weiser lebt heute in den USA und ist die jüngste bekannte Überlebende des KZ Buchenwald. Im Juni dieses Jahres wird sie 80 Jahre nach dem Kriegsende auf Initiative der Gedenkstätte für Zwangsarbeit das erste Mal wieder in Leipzig sein und im Rahmen des Projekts »Befreit in Leipzig 1945« über die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Familie sprechen.
■ Dr. Martin Clemens Winter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Alfred-Landecker-Lecturer am Historischen Seminar der Universität Leipzig
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