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Nie wieder Krieg

Robert Capa und die Befreiung von Leipzig 1945

  Nie wieder Krieg | Robert Capa und die Befreiung von Leipzig 1945  Foto: Robert Capa

Der Leipziger Kabarettist Meigl Hoffmann beugt sich über den großen Touchscreen im Capa-Haus. Darauf ist eine Karte Mitteleuropas zu sehen, übersät mit bunten Linien, die sich ausgehend von der Normandie über Deutschland ausbreiten. Die Zeit, seinen Fahrradhelm abzusetzen, hat Hoffmann sich noch nicht genommen. Zu groß scheint die Vorfreude, das »Herzstück« der neuen Ausstellung zu inspizieren: Am 16. April eröffnet sie, mit dem Titel »Wege der Befreiung«. Getreu dieses Mottos lassen sich auf dem interaktiven Bildschirm alle Wege der US Army in Europa vom D-Day – dem 6. Juni 1944 – bis zur Kapitulation der Nazis am 8. Mai 1945 nachvollziehen, wobei der Fokus auf Mitteldeutschland liegt. Das Display wird finanziell durch das Leipziger US-Konsulat sowie der privaten Organisation Spirit of America gefördert. Letztere steht der Army nahe und setzt sich für deren Beziehungen im Ausland ein. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es Hoffmann, im Menü die 69. Division auszuwählen: »Querfurt – Merseburg – Leipzig«, sagt er, während wir der Linie auf der Karte im maximalen Zoom bis nach Leipzig folgen.

Hier in der Frankfurter Straße 39, wo an diesem Frühlingstag die Sonne durch die großen Fenster ins Erdgeschoss scheint, befand sich am 18. April 1945 die Demarkationslinie zwischen der anrückenden US-Armee und einem Teil des verbliebenen nationalsozialistischen Widerstands – der andere verschanzte sich noch bis zum 20. April im Völkerschlachtdenkmal. Vor ziemlich genau 80 Jahren waren zwei Etagen über uns die beiden US-amerikanischen Soldaten Raymond Bowman und Lehman Riggs, in Begleitung des Kriegsfotografen Robert Capa. Vom Balkon aus richteten Bowman und Riggs das Maschinengewehr auf die andere Seite des Elsterflutbeckens über die Zeppelinbrücke in Richtung der dort vermuteten Nazis. Meigl Hofmann steht vor dem Gebäude und deutet mit ausgestrecktem Arm auf den Balkon im zweiten Stock. Was die drei Männer dort oben nicht wussten, erklärt uns der Kabarettist, indem er sich um 180 Grad in Richtung eines rund 200 Meter entfernten Gebüschs umdreht: Auch auf der Lindenauer Seite des Kanals befindet sich feindlicher Widerstand. Wie damals üblich, wechseln die beiden Soldaten auf dem Balkon sich am Maschinengewehr alle paar Minuten ab. »Peng«, sagt Hoffmann nach einer kurzen Kunstpause, eine Pistole mit den Händen nachahmend. Nur wenige Sekunden, nachdem Bowman von Riggs die Position übernommen hat, sackt der 21-Jährige regungslos zusammen. Tödlich verwundet durch einen Schuss in den Kopf.

Robert Capas ikonisches Foto vom letzten Toten des Krieges

Der Kriegsfotograf Robert Capa habe sich sofort auf den Boden fallen lassen, um in Deckung zu gehen, und quasi simultan den Auslöser seiner Kamera betätigt, beschreibt Hoffmann diesen Moment – fast so, als sei er mit im Raum gewesen –, in dem »The Picture of the last Man to die« entstanden ist, eines der bekanntesten Bilder Capas. Der Titel ist selbstredend nicht wörtlich zu verstehen – Nazi-Deutschland kapitulierte bekanntlich erst am 8. Mai 1945, nach unfassbaren Gräueltaten in den Endzügen des Krieges, wie etwa dem Massaker von Abtnaundorf, das quasi zeitgleich zur Szene auf dem Foto am 18. April 1945 von den Deutschen verübt wurde. So ist der Titel des Fotos vielmehr als Metapher für die Sinnlosigkeit des Krieges aufzufassen: Während die Würfel der Geschichte schon längst gefallen sind, sterben bis zum letzten Tag immer noch sinnlos Menschen, so wie der 21-jährige Raymond Bowman. Eine Binse, die so lange Bestand haben wird, wie es Kriege gibt, und doch meist in den Hintergrund rückt, wenn über Kriege gesprochen wird – bis heute.

Robert Capas Foto: Der letzte Tote des Krieges
»Der letzte Tote des Krieges«, aufgenommen von Robert Capa im heutigen Leipziger Capa-Haus, hier als Abzug im Sno’Boy-Magazin 1989

»Dieses Bild hat mich nicht mehr losgelassen«, erzählt Meigl Hoffmann mit erhobener Stimme, als er den Moment beschreibt, in dem er »Der letzte Tote des Krieges« (so der deutsche Titel von Capas Bild) das erste Mal 1989 in der ersten Ausgabe des illegalen Magazin Sno’Boy zu Gesicht bekam – dieses wurde von Peter Hinke herausgegeben, der wenig später die Connewitzer Verlagsbuchhandlung gründete, die jenen Connewitzer Kreuzer veröffentlichte, der im Sommer 1991 zum kreuzer wurde. Aber zurück zu Robert Capa und Meigl Hoffmann: Die ersten Bausteine zur Faszination für das in der DDR totgeschwiegene Thema der Befreiung Leipzigs durch die US-Armee seien bei ihm noch viel früher gelegt worden, erinnert sich Hoffmann. So habe er bereits als Kind den Geschichten der Großeltern gelauscht, die in der Zeit der Besatzung durch die Amerikaner Soldaten bei sich aufnahmen. Im Grundschulalter habe er Magazine der Nazis aus den Leipziger Kanälen gefischt, erzählt er leicht aufgeregt, ganz so, als sei es gestern gewesen. Auf dem Dachboden der Großeltern fand er noch einen Helm der US Army – die ja offiziell nie da gewesen war, was für ihn den Reiz an dem »verbotenen Thema« verstärkt habe, schmunzelt der Kabarettist. So seien die Fotos von Robert Capa auch nur in einem ominösen »Giftschrank« der Stadtbibliothek zugänglich gewesen: Darin habe Material gelagert, das in der DDR als potenziell gefährlich für die eigene Geschichtsschreibung galt – so wie Capas Fotos und der Sno’Boy. Nur wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten Zugang zu solchem Material gehabt.

Privatdetektiv Hoffmann ermittelt

Der Anblick des toten Soldaten besiegelt rückblickend einen Wendepunkt in Hoffmanns Leben – und den Beginn der Geschichte des heutigen Capa-Hauses. Das Besondere zu diesem Zeitpunkt ist nämlich: Niemand wusste, wo genau das Foto in Leipzig aufgenommen wurde und wer der tote Soldat auf dem Boden der Lindenauer Gründerzeitwohnung war. Was sich nach Hoffmanns Anblick der Fotografien Capas fortan entwickelte, lässt sich aus heutiger Sicht als zähes Puzzeln, phasenweise als Krimi, jedenfalls als persönliche »Obsession« und als Lebensthema Meigl Hoffmanns bezeichnen.

Meigl Hoffmann
Meigl Hoffmann, 1968 in Leipzig als Mike geboren, wird immer Kabarettist genannt, aber das wird ihm nicht gerecht. Er ist Entertainer, egal, was er tut. Hoffmann hatte mal ein »Goldenes Herz«, lange auch das Central-Kabarett. Mittlerweile steht er mit einem Bein auch in der Schweiz. Was nichts daran ändert, dass ihm viel am Capa-Haus und am Rosental liegt.

Die Spuren, die ins heutige Capa-Haus führen, beginnen in den neunziger Jahren als lose Stränge. Hoffmann knüpft Kontakte ins US-amerikanische Konsulat – das es seit 1992 wieder in Leipzig gibt, nachdem es bereits 1826 gegründet, aber 1941 von den Nazis geschlossen wurde – sowie ins Stadtgeschichtliche Museum. Er findet Mitstreiter wie etwa Christoph Kaufmann, der im Museum das Bildarchiv verwaltet. Hoffmann sichtet alte Fotos, umkreist das Gelände um den heutigen Straßenbahnhof an der Angerbrücke. Lange Zeit bewegt sich nichts. In den Nullerjahren beginnt das Thema der amerikanischen Besatzung Leipzigs allmählich eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren. Im April 2005 gibt es eine Festwoche zur Befreiung Leipzigs und eine Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum. Hoffmann führt Interviews mit Veteranen. Vom späteren Capa-Haus und der Identität des toten Soldaten weiter keine Spur.

In welchem Gebäude Capa das Bild aufgenommen hat, ergibt mit der Zeit das Ausschlussverfahren. Das Haus in der Jahnallee 61 hatte die auf der bekannten Fotografie zu erkennenden Balkongitter – allerdings nicht auf der relevanten Seite in Richtung Elsterflutbecken. Um seine Vermutung über den Ursprungsort des Fotos zu verifizieren, macht der 1968 geborene Hoffmann das eigentlich dem jugendlichen Leichtsinn Vorbehaltene und steigt im Jahr 2010 mit einem Freund in das einsturzgefährdete Gebäude. Zwischen Bauschutt findet er in der zweiten Etage mit Blick Richtung Zentrum vor allem eins: Gewissheit. Gewissheit darüber, dass hier das Foto des »letzten Toten« entstanden sein muss: »Ich habe mir zu Hause den Grundriss noch einmal aufgemalt und festgestellt, dass der auf dem Foto zu sehende Balkon abmontiert worden sein muss«, so Hoffmann.

Robert Capa
Gerda Taro, Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg, 1937

Eine Bürgerinitiative formiert sich

Die Euphorie über das gelöste Rätsel ist allerdings nicht von langer Dauer, denn für das 1913 erbaute, einsturzgefährdete Haus liegt eine Abrissgenehmigung vor – es gilt also, um den Erhalt des Hauses zu kämpfen. Es formiert sich Widerstand gegen den geplanten Abriss, die »Ur-Gruppe Capa-Haus« entsteht, neben Hoffmann unter anderem mit Christoph Kaufmann vom Stadtgeschichtlichen Museum, dem Linke-Politiker Volker Külow und dem Professor für Biomedizin Ulf Dietrich Braumann. Diese Achse aus Lokalpolitik, Wissenschaft und Bürgerschaft bildet das Gerüst für die Bürgerinitiative zur Erhaltung des Capa-Hauses, die durch eine Pressekonferenz im Jahr 2010 medienwirksam für den Erhalt des Gebäudes kämpft (s. kreuzer 4/2010). »Das Haus ist durch, Meigl«, habe man ihm damals hinter den Kulissen von Seiten der Stadt gesagt, erinnert sich Hoffmann.

Inmitten dieser schwierigen Phase platzt dann eine gewaltige Nachricht herein: Über mehrere Ecken und durch einige Zufälle gelingt der Kontakt zum zweiten »Machine Gunner«, der am 18. April 1945 in der heutigen Jahnallee dem Tod nur wenige Sekunden entging. Sein Name ist Lehman Riggs, er lebt in Tennessee und er kann den Namen des toten Soldaten bestätigen: Raymond J. Bowman. Im Jahr 2012 kommt der mittlerweile 93-jährige Lehman Riggs nach Leipzig – und betritt mit Hoffmann jenes Zimmer, wo sein Kamerad starb. Damals wird eine Gedenktafel für Bowman eingeweiht. Sehr emotional, erinnert sich Meigl Hoffmann.

Amerikanische Soldaten im Gefecht
Robert Capa, Amerikanische Soldaten im Gefecht mit Deutschen am Straßenbahnhof Angerbrücke, 18. April 1945

Dass das Capa-Haus heute als Ort der Erinnerung entstehen konnte, ist auch dem neuen Eigentümer des Gebäudes zu verdanken, der ausreichend Geschichtsbewusstsein und das nötige Kleingeld mitbringt, um die Ruine mit einem Millionenbetrag zu sanieren. Im Jahr 2016 eröffnet dann der Erinnerungsort Capa-Haus mit Café und Ausstellungsräumen. Heute sind hier mehrere Akteurinnen und Akteure am Erinnerungsort beteiligt: Die Capa Culture gGmbH verantwortet Veranstaltungen und Sonderausstellungen, während Hentrich & Hentrich, der ebenfalls im Haus ansässige Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte, das Projekt sowohl fachlich als auch personell unterstützt. Die im Haus angesiedelte Dauerausstellung »War is over« wird vom Stadtgeschichtlichen Museum in Zusammenarbeit mit der Capa-Haus-Initiative, die aus der Bürgerinitiative hervorging, kuratiert. Zu sehen gibt es hier neben einigen Infotafeln zur Befreiung der Stadt auch die Ausgabe des Life-Magazins vom 14. Mai 1945, das die Bilder Capas kurz nach der deutschen Kapitulation veröffentlichte. Und auch der originale Schreibtisch, der auf »The Picture of the last Man to die« zu sehen ist, steht heute wieder hier. Zudem widmet sich die Dauerausstellung Gerda Taro, die eine Zeitlang in Leipzig lebte und wie ihr Lebensgefährte Capa für Kriegsfotografien aus dem Spanischen Bürgerkrieg bekannt ist.

Veranstaltungen zum 80. Jubiläum

Zum 80. Jubiläum des Kriegsendes in diesem April plant das Capa-Haus die bereits erwähnte Ausstellung »Wege der Befreiung – Vom D-Day bis zum Elbe-Day«, die die Wege der US Army durch Mitteldeutschland auf einer Karte rekonstruiert und dabei auch weitere Erinnerungsorte in Mitteldeutschland zum Thema Befreiung durch die US-Armee sichtbar macht. Außerdem veranstaltet das Capa-Haus am 16. April das Symposium »The Power of Images – Robert Capa and the Liberation of Leipzig 1945«. Es sind dafür internationale Gäste in die Handelsbörse eingeladen, unter anderem vom Capa-Haus in Madrid und Cynthia Young, die lange für die Bilder Robert Capas und Gerda Taros am International Center of Photography in New York verantwortlich war.

Ausstellung im Capa-Haus
Aufbau der Dauerausstellung im Capa-Haus © Capa-Haus-Initiative

»Viel Herz und ein wenig Nerdtum« habe es schon gebraucht, sagt Meigl Hoffmann und zieht an seiner Zigarette. Wir sitzen vor dem Capa-Haus und seine blaue Jacke der Illinois State Police glänzt in der Frühlingssonne. Er zeigt Schwarz-Weiß-Fotoaufnahmen der US-Soldaten bei ihrer Ankunft in Leipzig auf seinem Smartphone. Äußerst plastisch beschreibt er, wie die amerikanischen Panzer die Frankfurter Straße im April 1945 bis zur Zeppelinbrücke anrollten und wo sich die deutschen Soldaten am Ufer versteckten. Eine Passantin dreht sich verwundert zu uns um. Schwer vorstellbar ist das heute alles, an diesem schönen Frühlingstag. Bei aller Faszination für das Thema bleibe, so Hoffmann, vor allem die ganz einfache Botschaft: »Krieg ist scheiße«.

Redaktioneller Hinweis: Im gedruckten Heft haben wir geschrieben, dass das Symposium »The Power of Images – Robert Capa and the Liberation of Leipzig 1945« am 16. April nicht öffentlich ist. Allerdings findet das Symposium doch öffentlich statt. Von 14 – 18.30 Uhr. Mehr Infos dazu gibt es hier

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels stand, dass der D-Day am 8. Juni 1944 stattfand. Es war allerdings der 6. Juni. Wir haben das korrigiert. 


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1 Kommentar(e)

Matthias Klemm 31.03.2025 | um 07:10 Uhr

Der D-Day war am 6.Juni 1944.