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Stadtleben

»Wohnraum ist ein Grundbedürfnis«

Das Projekt »Siewo« vermittelt Wohnungen an Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben

  »Wohnraum ist ein Grundbedürfnis« | Das Projekt »Siewo« vermittelt Wohnungen an Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben  Foto: Symbolbild/Siewo

Die neu geschaffene Stelle »Siewo – sie wohnt gewaltfrei« vermittelt Wohnraum für Frauen, die nach häuslicher Gewalt Zuflucht in Frauenschutzhäusern gesucht haben. Ziel ist es, die Frauenhäuser in Leipzig zu entlasten und Frauen auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu unterstützen. Der kreuzer hat mit zwei Beteiligten am Projekt gesprochen: Friederike Frieler, Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK), und Alla Lysenko von der Kontaktstelle Wohnen beim Verein Zusammen.

Warum braucht es ein Projekt wie Siewo?

Frieler: Wie in anderen Großstädten auch haben wir in Leipzig einen Wohnungsnotstand. Besonders Frauen, die nach einer Gewalterfahrung Zuflucht in Frauenschutzhäusern suchen, sind davon betroffen. Nach einer gewissen Zeit können und möchten sie eigentlich wieder ausziehen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch sie finden kaum Wohnungen. Dabei ist Wohnraum ein Grundbedürfnis. Die Idee für Siewo entwickelte sich aus meiner Forschungsarbeit an der HTWK rund um das Thema Wohnen, Wohnungspolitik, und prekäre Wohnverhältnisse. Aber auch die Situation der Frauen- und Kinderschutzhäuser in Leipzig war ausschlaggebend (s. kreuzer 11/2023). Vor zwei Jahren machten sie auf einen Mangel an Schutzplätzen aufmerksam, der auch dadurch bedingt ist, dass die Frauen aufgrund des angespannten Wohnungsmarkts oft länger dort bleiben müssen als nötig. So werden dringend benötigte Plätze blockiert. Hier setzen wir mit dem Projekt an.


Wie läuft die Wohnungsvermittlung in der Praxis ab?

Lysenko: Idealerweise erreichen wir über unsere Kampagne Menschen, die eine Wohnung anbieten. Dann suchen wir eine geeignete Mieterin und helfen bei sämtlichen Behördengängen und Anträgen. Wenn alles funktioniert, zieht sie in die Wohnung ein. Auch danach bleiben wir sowohl für Mieterinnen als auch Vermietende ansprechbar.

Frieler: Grundsätzlich bezahlen die Mieterinnen ihre Miete selbst. Einige erhalten aber Unterstützung durch Sozialleistungen. Das ist kein Geheimnis. Deshalb suchen wir vor allem günstigen Wohnraum. Das heißt aber nicht, dass die Frauen auf ewig Sozialleistungsempfängerinnen bleiben. Oft geraten sie erst durch ihren Partner und die Gewalterfahrungen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit. Nach der Trennung vom Partner sind diese finanziellen Unterstützungen die Grundlage, um eine eigene Wohnung, aber auch eine Arbeit zu finden.


Nach welchen Kriterien vermitteln Sie Wohnungen an Betroffene?

Lysenko: Wir haben Kontakt zu allen vier Frauenschutzhäusern in Leipzig. Die Mitarbeiterinnen vor Ort können die Frauen am besten einschätzen. Wir informieren über die Wohnungssuche, ermutigen die Frauen aber auch selbst zur Suche. Sie sind nicht von uns abhängig.

Frieler: Eine akute Gefährdung darf zudem nicht vorliegen.

Lysenko: Der Ex-Partner oder die Ex-Partnerin darf nicht einfach vor der Tür auftauchen. Aber in unseren Fällen ist die Gefährdungslage meist geklärt, sodass die Frauen bereit sind, in den eigenen Wohnraum zu ziehen. An diesen Punkt muss man erstmal kommen.


Wie wird das Projekt finanziert?

Frieler: Über eine Förderung des Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, genauer über ein Programm für soziale Innovationen. Da passte die Idee der Siewo gut rein, so eine Wohnungsvermittlungsstelle gibt es in Sachsen noch nicht.


Und wie kommt das Projekt bisher an?

Lysenko: Die Betroffenen in den Frauenschutzhäusern haben sich gefreut. Ich spüre Hoffnung, aber auch eine Erwartungshaltung. Von den Sozialarbeiterinnen wurde das Projekt enthusiastisch angenommen, weil sie dadurch entlastet werden. Genau deswegen hoffe ich, dass Wohnungen angeboten werden. Es wäre schön, dieser Erwartung gerecht zu werden.


Gibt es schon Vermittlungserfolge?

Frieler: Vermittlungen fanden nur sporadisch statt. Wir haben bereits erste Interessentinnen für Wohnungen beraten. Aber das entspricht dem Stand der Erwartungen. Gerade ist es vor allem wichtig, Vermietende für das Projekt zu gewinnen. Dafür haben wir uns eine Kampagne überlegt und gehen nun gezielt auf Wohnungsgenossenschaften, Immobilienunternehmen und Privatvermieter zu.


Das Projekt soll auch wissenschaftlich begleitet werden. Was bedeutet das?

Frieler: Wir befragen Vermietende, was sie in so einem angespannten Wohnungsmarkt dazu motiviert, soziales Engagement zu zeigen. Und wir sprechen mit den Frauen, um das Projekt evaluieren zu können. Uns interessiert auch, welche Rolle bisherige Erfahrungen mit Wohnen spielen. Vermutlich ist es mit wenig Erfahrung oder Ressourcen besonders schwer, sich auf dem Wohnungsmarkt zurechtzufinden. Abgesehen von all den Gewalterfahrungen, die die Betroffenen gemacht haben.


Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Projekts?

Lysenko: Eine langfristige Förderperspektive. Das ist die Basis dafür, dass wir nachhaltig arbeiten können. Und natürlich bezahlbare Wohnungsangebote, vielleicht sogar Kooperationsverträge mit großen Immobilienfirmen. Das würde uns helfen.

Frieler: Ich wünsche mir, dass wir Erkenntnisse aus diesem Projekt gewinnen. Damit geht natürlich einher, dass wir möglichst vielen Frauen einen eigenen Wohnraum vermitteln konnten. Wir wollen auch herausfinden, wie sich das Projekt weiterentwickeln lässt – vielleicht auch über Leipzig hinaus? 

> Wer Wohnraum anbieten und Betroffene häuslicher Gewalt unterstützen möchte, findet Infos und Kontakt unter: www.siewo-leipzig.de.

> Im Rahmen des Projekts findet eine Filmvorführung mit Podiumsdiskussion zu dem Thema »Zuflucht nehmen« im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig statt. 9. September,19 Uhr.


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