anzeige
anzeige

2025: Odyssee im Stadtraum

Die Entwicklung des Kohlrabizirkus liegt mit dem Moratorium auf Eis – das dort geplante Filmkunsthaus ist sogar ganz vom Tisch

  2025: Odyssee im Stadtraum | Die Entwicklung des Kohlrabizirkus liegt mit dem Moratorium auf Eis – das dort geplante Filmkunsthaus ist sogar ganz vom Tisch  Foto: Joao De Carvalho


Wir erleben einen Schockzustand«, sagt Sven Röder, Pressesprecher der Cinémathèque. Nach 13 Jahren und Plänen für vier verschiedene Standorte, nach zwischenzeitlich zugesagten 21 Millionen Euro, vor allem aber nur ein reichliches Jahr nachdem der Stadtrat 8 Millionen Euro dafür festgeschrieben hat, ist das Leipziger Filmkunsthaus Geschichte. Es wird auch im Kohlrabizirkus nicht entstehen, den die Stadt erst 2021 für 11,5 Millionen Euro gekauft hat, um ihn zum Zentrum des Stadtentwicklungsprojekts »Alte Messe West« zu machen. Eine Dienstberatung des Oberbürgermeisters und ein Moratorium des Finanzbürgermeisters später heißt es nun jedoch: keine Vorstellungen im Kohlrabizirkus.

Stadtentwicklungsprojekt mit dem Kohlrabizirkus als Quartiersmittelpunkt

Der Stadtratsbeschluss vom 21. Juli 2021 zu diesem Kauf sieht im Kohlrabizirkus die »Basis für kulturelle und sportliche Nutzung«, er soll »dauerhaft und vollständig in Nutzung gebracht und in Anknüpfung an bereits vorhandene Angebote zu einem bedeutenden Sport-, Kultur- und Freizeitstandort mit regionaler Ausstrahlung qualifiziert werden.«

Nachdem der Kohlrabizirkus jahrelang nur punktuell genutzt wurde – als Zirkus, für Konzerte und Flohmärkte – und sich in der Südhalle von 2000 bis 2012 der Eisdom befand, die damals größte Indoor-Eisfläche in Deutschland, sind nun eine Kletterhalle und auch die Gedenkstätte für Zwangsarbeit hier im Gespräch, ebenso Ateliers und Büros. Seit 2018 tragen die Icefighters Leipzig in der Nordhalle ihre Eishockey-Heimspiele aus. Im Keller des nördlichen Seitenflügels eröffnet im Mai 2014 das Institut für Zukunft. Nach dessen Ende im Januar 2025 gibt es seit Mai in denselben Räumen mit dem Axxon N. wieder einen Technoclub.

Beim nicht offenen städtebaulichen Realisierungswettbewerb für das Stadtentwicklungsprojekt »Alte Messe West« im September 2022 gewinnen die Berliner Büros De-Architekten und Bacher Landschaftsarchitekten. Zur Preisverleihung heißt es: »Quartiersmittelpunkt bildet die Großmarkthalle mit erweitertem Nutzungsspektrum und die umgebenden attraktiven Freiräume, mit belebten Erdgeschosszonen der angrenzenden Gebäude. Hierbei wird die Eingangssituation des Platzes an der Großmarkthalle von der S-Bahn-Station MDR kommend gestaltet, um der zentralen Bedeutung des Umweltverbundes für das Gebiet Rechnung zu tragen.« Die Masterplan-Beauftragung an die Gewinner und die Abstimmung der Grundstückseigentümer sollen folgen. Auch Beteiligungsmöglichkeiten sind für die Öffentlichkeit vorgesehen, über die das Stadtplanungsamt rechtzeitig informieren will. Bis Anfang 2026 gibt es zu diesem Zeitpunkt als grobe Orientierung an – und dass sich daran etwas ändern könne. Das hat es nun im Herbst 2025 getan.

Dabei sein ist alles – aber nicht für die Cinémathèque

Aktuell ist der Wettbewerbsentwurf für den Kohlrabizirkus auf der Website der Stadt zu sehen – als eins der »Aktuellen Themen« zur Olympiabewerbung von Berlin, bei der Leipzig als zusätzlicher Standort im Konzept steht. »Dabei sein ist alles« gilt dabei aber nicht für die Cinémathèque. Wir treffen vier niedergeschlagene Teammitglieder im Spielort in der Karl-Liebknecht-Straße 109. Trotz vieler Rückschläge haben sie ihr Vorhaben in den letzten 13 Jahren vorangetrieben, ein interdisziplinäres Zentrum für Filmkunst und Medienbildung zu schaffen. Vor uns auf dem Boden liegen verschiedene Machbarkeitsstudien des Filmkunsthauses und diese dokumentieren den Aufwand, mit dem die Cinémathèque an dessen Konzeption gearbeitet hat, genauer: an dessen Konzeptionen. Denn der Standort am Kohlrabizirkus ist bereits der vierte, den die Cinémathèque ins Visier genommen hat, weil die Stadt Leipzig die Ankaufsverhandlungen im Löwitzquartier abgebrochen hatte, nachdem es zunächst in der Skala und dann in der Feinkost entstehen sollte. Seit einem guten halben Jahr habe das Team im Austausch mit der Stadt und mit der LEVG gestanden, um die Planung am Kohlrabizirkus zum Abschluss zu bringen. Doch daraus wird nun nichts. »Die Nachricht kam für uns überraschend. Wir haben bis zuletzt am Ziel festgehalten, waren zuversichtlich mit dem Standort Kohlrabizirkus«, sagt Sven Röder – zuversichtlich trotz der städtischen Haushaltslage. Denn noch am 20. Juni 2024 habe der Stadtrat ja »beschlossen, acht Millionen Euro für das Filmkunsthaus festzuschreiben – das war für uns noch mal ein riesengroßer Schritt.«

In der Dienstberatung des Oberbürgermeisters Ende September 2025 sollte im nächsten Schritt eine Beschlussvorlage für den Stadtrat vorbereitet werden, die Planungskosten für das Projekt abzurufen. Diese Beschlussvorlage wurde in der Dienstberatung aber nicht bestätigt. Die Filmkunsthaus-Aktiven erfuhren das in einer E-Mail von den beiden Kulturamtsmitarbeitern, die das Projekt lange begleitet haben, erzählen sie uns. »Es war einfach nur eine Feststellung der Tatsache, dass es das Aus ist und unter anderem das Kulturamt vom OBM von der Pflicht enthoben wurde, weiter nach Standorten zu suchen«, erklärt Angela Seidel, die das Projekt 13 Jahre lang betreut hat. Von der Stadt wurden zwei Gründe genannt: der Entwicklungshorizont, der keine Priorität habe, und die aktuelle Haushaltssituation.

Ein Protokoll aus der Dienstberatung des Oberbürgermeisters hat die Cinémathèque auch auf Anfrage nicht erhalten. Unsere Anfragen an OBM Burkhard Jung und Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke erreichten beide im Urlaub. Der amtierende Kulturamtsleiter Tobias Kobe (im Interview auf S. 20) teilte uns dazu mit: »Trotz intensiver gemeinsamer Bemühungen ist es leider nicht gelungen, einen geeigneten Standort unter den nun aktuellen Rahmenbedingungen für das Filmkunsthaus zu finden. Das Kulturamt steht dem Träger weiterhin beratend zur Seite, beziehungsweise befindet sich im engen Austausch.« Die Entscheidung sei der Cinémathèque »in einem persönlichen Gespräch gemeinsam mit der Beigeordneten für Kultur erläutert« worden. »Auch der Stadtrat wurde umgehend informiert.«

Doch nur eine Nebenrolle

»In dem Moment, als die Feinkost gescheitert ist, wurde uns die Selbstgestaltung in diesem Prozess aus der Hand genommen«, sagt Angela Seidel. »Wir sind nicht mehr Teil eines Entscheidungsprozesses, was wir bis dahin waren. Wären wir in dieser Rolle nicht verantwortungsvoll gewesen, gäbe es diese 21 Millionen nicht.« Gemeint sind hier die vom Bund für ein Filmkunsthaus auf dem Feinkost-Gelände bereitgestellten Fördergelder, die nach dem Scheitern des Vorhabens dort von der Stadt auf weitere Projekte verteilt wurden. Die daraus resultierten Teilabrufe für die Schaubühne und fürs Haus der Festivals (ehemals Skala) sind 2024 gestellt worden und können wohl fristgerecht abgerufen werden. Kulturamtsleiter Kobe erklärt dazu: »Ende Oktober (und damit nach Drucklegung dieser Ausgabe, Anm. d. Red.) verständigt sich das Kulturamt mit den Fördermittelgebern BKM und SMWKT zum weiteren Vorgehen« – gemeint sind der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus.

Die Cinémathèque schaut derweil in die Röhre, weil die Anträge aufgrund der ungeklärten Standortfrage nicht gestellt werden konnten – nur bis Ende 2026 hätten die vom Bund bereitgestellten Fördergelder noch abgerufen werden können. In dieser kurzen Zeit hätte der Verein den Kohlrabizirkus realistisch entwickeln können, versichert das Team, einen noch zu findenden neuen Ort jedoch nicht.

Eine neue Ära

Will die Stadt überhaupt noch ein Filmkunsthaus für Leipzig und die Region? Es gäbe nicht einmal einen eigenen Fördertopf für Film bei der Stadt, erklärt Seidel. Qualitativ hervorragende Arbeit wird der Cinémathèque von außen regelmäßig bestätigt: Erst im September 2025 wurde sie das sechste Jahr in Folge mit einem Kinoprogrammpreis der Mitteldeutschen Medienförderung und der AG Kino-Gilde ausgezeichnet.

»Wir betreten eine neue Ära, fürchte ich, in der Kulturpolitik und in der Politik generell, die natürlich mit der finanziellen Krise verbunden ist«, sagt Angela Seidel. »Ich fürchte, dass es in der nahen Zukunft nicht mehr zur Frage steht, wie man Kultur oder bestimmte Kulturprojekte macht, sondern ob man sie macht.« Noch vor Kurzem seien diese Fragen unvorstellbar gewesen: »Braucht man die Räume, braucht man wirklich diese Kultur, braucht man diese neuen Projekte, braucht man Demokratieentwicklung?« Seidel glaubt: »Das ist etwas, womit wir zurechtkommen müssen oder einfach sehr laut dagegen schreien, als Demokratie und als Kulturschaffende.« Dem Filmkunsthaus kann die Stadt den Stecker ziehen, dem Engagement der Cinémathèque offenbar nicht.

Wie es mit dem Kohlrabizirkus weitergeht, hätten wir gern mit der Geschäftsführung der LEVG besprochen, auf unsere Anfrage dazu hieß es jedoch, die LEVG befinde sich »noch in Abstimmung mit der Stadt Leipzig« und könne »somit frühestens einen Termin in ca. drei Monaten vereinbaren«.



Info: Eröffnet wurde der Kohlrabizirkus im Oktober 1930 als Großmarkthalle. Die Leipziger Stadtverordnetenversammlung hatte den Bau einer solchen am13. Juli 1927 beschlossen, da die 1891 gebaute Zentralmarkthalle (auf dem heutigen Wilhelm-Leuschner-Platz) keinen Gleisanschluss zur Anlieferung hatte. Unter Leitung von Stadtbaurat Hubert Ritter entstanden ab 1928 mit den Bauingenieuren Franz Dischinger und Hubert Rüsch zwei Hallen mit 75 Meter Durchmesser großen Kuppeln. Die 30 Meter hohen Hallen mit jeweils 5.300 Quadratmetern Fläche galten als Meisterleistung des Stahlbetonbaus und zu der Zeit als »größte Massivkuppeln der Welt«. Dem Obst- und Gemüsehandel verdanken sie ihren Namen. Weil dieser in den neunziger Jahren nach Radefeld in einen Neubau umzieht, stehen die Hallen leer und entwickeln sich zur »Problemimmobilie«. Ein Interessent ist 1995 bereit, 35 Millionen DM für den Kauf zu zahlen, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben hält jedoch am festgelegten Wert von 57 Millionen DM fest, die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) bietet das Gelände bei Auktionen an – erfolglos. Wolfram Richter aus Mainz kauft den Kohlrabizirkus schließlich 2011 für 495.000 Euro, 2017 geht das Gebäude in den Bestand der Vicus Group über – über den Verkaufspreis wird geschwiegen –, von der die Stadt Leipzig es vier Jahre später für 11,5 Millionen Euro kauft, um es der Leipziger Entwicklungs- und Vermarktungsgesellschaft mbH & Co. Grundstücks-KG (LEVG) zu übertragen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)