Kürzlich sorgte die Stasiunterlagen-Behörde für helle Aufregung, als sie ein Dokument veröffentlichte, das als Schießbefehl für die innerdeutsche Grenze gedeutet wird. »Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben«, heißt es in der Dienstanweisung vom 1. Oktober 1973, die einer als Grenzsoldaten getarnten Stasi-Einheit galt. Der Schlüssel, der das Unrecht am Todesstreifen erklärt? Kein bisschen, findet der Leipziger Filmemacher Holger Jancke.
Vor wenigen Tagen sorgte die Stasiunterlagen-Behörde für helle Aufregung, als sie ein Dokument veröffentlichte, das als Schießbefehl für die innerdeutsche Grenze gedeutet wird. "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben", heißt es in der Dienstanweisung vom 1. Oktober 1973, die einer als Grenzsoldaten getarnten Stasi-Einheit galt. Der Schlüssel, der das Unrecht am Todesstreifen erklärt? Kein bisschen, findet der Leipziger Filmemacher Holger Jancke, der seine Erinnerungen als Grenzsoldat zum Thema seines bereits 2004 entstandenen Dokumentarfilms „Grenze" gemacht hat. Zum passenden Zeitpunkt startet er nun am 16. August bundesweit in den Kinos. Ein Film über fünf Kameraden und ihre zermürbende Dienstzeit am Abzug der Kalaschnikow.
KREUZER: Überrascht Sie die Aufregung über das erst jetzt veröffentlichte Dokument, das man als Schießbefehl bezeichnet?
HOLGER JANCKE: Ja, denn es handelt sich gar nicht um den vergeblich gesuchten Grenzer-Schießbefehl, sondern offenbar um eine Willenserklärung für eine kleine Stasi-Einheit. Über den Befehlsgeber ist genauso wenig bekannt wie über die Adressaten. Aber wie sollten 70 Stasi-Einzelkämpfer Fahnenfluchten verhindern? In den Grenztruppen dienten ständig 35.000 Einberufene, die Nacht für Nacht abwechselnd zu zweit auf Streife gingen. In solchen Nächten fanden Fahnenfluchten statt! Wenn einer der beiden Grenzer über den Zaun kletterte, blieb die spontane Entscheidung, das zu verhindern oder nicht, bei dem anderen. Niemand redete über seine Fluchtpläne – sich vorher abzustimmen, war ausgeschlossen. Außerdem hätte man als Grenzer gar nicht mit Frau und Kind flüchten können, auf die ja laut gefundenem Dokument ebenfalls geschossen werden sollte. Das Grenzgebiet war Sperrzone und die Familien der Wehrpflichtigen hunderte Kilometer entfernt.
KREUZER: Warum meinen Sie, ist die Suche nach dem Schießbefehl vergeblich?
JANCKE: Es ist alles viel komplizierter. Es gab 270 Tote! Das Grenzgesetz sagte: Warnschuss abgeben, Flüchtling einfangen, aber Schießen erst als letztes Mittel. Von Töten stand nichts geschrieben. Andererseits gab es vor jedem Grenzdienst eine mündliche Anweisung: Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten. Kein Offizier hat gegenüber uns Zwanzigjährigen feinsinnig über das Oder philosophiert. Am Zaun waren wir allein. Mit unseren Ängsten, die zu Verdrängungen wurden, und mit Kalaschnikows, die zwar immer funktionierten, aber für den Krieg gebaut waren und nicht für Scharfschützenschüsse, die nur die Beine eines Fliehenden treffen sollten.
KREUZER: Hätten Sie im Ernstfall eine Wahl gehabt?
JANCKE: Tausend offene Fragen ... Hätte ich ihn festnehmen sollen? Bei allem Verständnis für den Flüchtling – das wäre nicht mein Hauptproblem gewesen, redete ich mir damals ein. Er geht für ein Jahr in den Knast und wird dann in den Westen freigekauft. Und ich? Ich wäre wegen Befehlsverweigerung für unbestimmte Zeit im berüchtigten Militärknast Schwedt verschwunden. Der war viel härter. Aber schießen? Ich hatte mir vorgenommen, nicht oder zumindest vorbeizuzielen. Doch was, wenn man panisch in der undenkbaren Situation doch draufhält? Wenn man vor Angst und Kälte zittert mit einer Kugelspritze, die älter ist als ich? Und wie gesagt: Wir waren zu zweit. Wie reagiert der andere, wenn jemand hundert Meter vor uns durch den Nebel rennt? Schießt er? Verpfeift er dich, wenn du nicht schießt?
KREUZER: Wie sollte man Ihrer Meinung nach mit den Erschießungen an der innerdeutschen Grenze umgehen? War es Mord? War es Totschlag? Ist jeder einzelne Soldat zur Verantwortung zu ziehen?
JANCKE: Jeder der 270 Todesfälle durch Schüsse oder Minen wurde gründlichst untersucht. Vermutlich war das auch im Sinne der unglücklichen Soldaten. Ich denke, dass die meisten im Schockzustand schossen, weil letztlich dann doch eintrat, was sie immer befürchteten und voller Angst verdrängt hatten. Plötzliche Panik, wie bei einem Autounfall. Nicht in Tötungsabsicht – doch was nutzt das? Auch wenn es unbeabsichtigt war: Mit der Frage „Was habe ich getan?" müssen die Schützen weiterleben, gerade wenn sie moralisch und seelisch gesehen unschuldig sind. Gerade wenn sie in Angst und Schrecken auf den Abzug drückten und auf einen rennenden Schemen im Nebel schossen.