Eine kleine Enttäuschung zu Beginn: Bertram Weisshaar kommt nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Und er hat kein GPS dabei. Das benutzt er nämlich neuerdings, wenn er auf Tour ist. Sonntagsspaziergang geht anders: Weisshaar ist Spaziergangsforscher.
Eine kleine Enttäuschung zu Beginn: Bertram Weisshaar kommt nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Und er hat kein GPS dabei. Das benutzt er nämlich neuerdings, wenn er auf Tour ist. Sonntagsspaziergang geht anders: Weisshaar ist Spaziergangsforscher. Die Route hat er gewählt. Sie beginnt am ersten Wohnblock in der Straße des 18. Oktober. Das einzige Hilfsmittel, das er dabeihat: eine Klarsichthülle mit Google-Earth-Ausdrucken.
Ein Durchgang zwischen Block und Tunnel-Baustelle führt mit Blick auf das leergeräumte Ex-Gleisfeld hinterm Bayerischen Bahnhof an Blumenbeeten und Sitzbänken vorbei, durch eine gerade so mannbreite, dornenbewehrte Bresche im Gebüsch und endet nach nicht einmal zwei Minuten an einem Bauzaun.
Erste Klärung über die Stilfragen der Spaziergangsforschung: Passen sich Promenadologen, wie man die Forscher des Fußwegs auch nennt, dem Modus des durchschnittlichen Spaziergängers an? »Es ist ein Unterschied, ob man allein unterwegs ist oder in der Gruppe«, sagt Weisshaar salomonisch – und kehrt erst mal um. Der Weg führt weiter durch das vergreiste Hinterland zwischen den Wohnmaschinen und nutzlos gewordenen Betriebsgebäuden der Bahn.
Erhabenheit fünf Meter überm Boden: Wir halten auf dem Brückenprovisorium, das über das umgewühlte Gleisfeld in die Randlagen der Südvorstadt führt. Das hier hätte auch ein Picknick werden können ... Blick in die Ferne, der Fotograf zwingt Weisshaar in eine bedenkliche Caspar-David-Friedrich-Pose. Das muss die poetische Dimension der Spaziergangsforschung sein. Sie bringt temporäre Gärten hervor, deren Accessoires Weisshaar und seine Kollegen in Einkaufswagen verstauen und an jedem beliebigen Ort aufbauen können.
Die handfestere Seite der Disziplin weist dem Promenadologen einen Platz an der Seite von Stadtentwicklern und Soziologen zu. Weisshaar selbst lebt auch von Lehraufträgen. Mit Studenten der HTWK suchte er nach dem Ende der Stadt. Außerdem sind es Kunstvereine und Reisegruppen, die ihn buchen. Mit ihnen läuft er die Parthe hinterm Hauptbahnhof ab, die Berliner Avus, Landschaftslücken in der Bankenstadt Frankfurt oder die Tagebaukrater um Gräfenhainichen.
Ein Stück weiter auf der Kohlenstraße: die Architekturen der Tunnelbaustelle, Kiesberge, die unterm festen Tritt wegrutschen, gelb blühende Haldenvegetation. Noch Stadt oder schon Landschaft? Streifzug oder schon Trail? Zwischen orange lackierten Bulldozern und der Abbruchkante des Gleisfeldes macht Weisshaar einen asiatischen Garten aus. Der Regen hat eine vielleicht drei, vier Meter breite Mulde mit Wasser gefüllt, Enten sind zu Besuch, Armierungseisen und Grasbüschel geben sich japanisch.
Eine Sternstunde unseres Spaziergangs. Nur die vielen Löcher in den Bauzäunen machen skeptisch: Vor dem Spaziergangswissenschaftler waren andere hier.