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Kultur

Die Erinnerung trügt

DOK Leipzig: Im Sonderprogramm »Transit ‘89. Danzig – Leipzig – Bukarest« laufen Filme zum politischen Umbruch

  Die Erinnerung trügt | DOK Leipzig: Im Sonderprogramm »Transit ‘89. Danzig – Leipzig – Bukarest« laufen Filme zum politischen Umbruch

Es gibt kein Gedächtnis, das nicht sozial ist. Diese Kernthese des Soziologen Maurice Halbwachs birgt Sprengstoff, beinhaltet sie doch die Aussage, dass selbst die noch so privaten Erinnerungen des Einzelnen in der Interaktion mit anderen entstehen, sprich sozial konstruiert sind.

Es gibt kein Gedächtnis, das nicht sozial ist. Diese Kernthese des Soziologen Maurice Halbwachs birgt Sprengstoff, beinhaltet sie doch die Aussage, dass selbst die noch so privaten Erinnerungen des Einzelnen in der Interaktion mit anderen entstehen, sprich sozial konstruiert sind. Insofern gibt unsere Erinnerung an Vergangenes immer auch Aufschluss über die geistige Verfassung unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Genau das ist das eigentlich Spannende, wenn etwa zum tausendsten Mal ein Film über die NS-Zeit in die Kinos kommt.

Dieser Tage muss man sich fragen: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, wenn wir das Ende der DDR zugespitzt als das Ergebnis einer Nachrichtenmeldung in der »Aktuellen Kamera« erinnern, wodurch noch am selben Abend die Mauer einstürzte?

Zum Jubiläum des Mauerfalls ist die Erinnerungsmaschinerie mit ihren immer gleichen Fernsehbildern in vollem Gange. DOK Leipzig startet nun zum Gegenangriff und versucht wie immer, den Blick zu weiten.

Wie Karneval: das surreale letzte Jahr der DDR, porträtiert im Leipziger Dokfilm »Letztes Jahr – Titanic«
Das Sonderprogramm »Transit ‘89. Danzig – Leipzig – Bukarest« zeigt den politischen Umbruch im Spiegel des Dokumentarfilms. Es weitet den Blick über Deutschland hinaus auf die Entwicklung in Osteuropa, ohne die der Mauerfall nie denkbar gewesen wäre. Und es weitet den Blick anhand von selten gezeigten Dokumenten, die nicht die sozialen Konstruktionen heutiger Zeitzeugen widerspiegeln, sondern unmittelbar der damaligen Zeit entsprungen sind.

So dokumentiert »Workers ‘80« (»Robotnicy ‘80«, Programm II) auf mitreißende Weise die Geburtsstunde der Solidarnosc auf der Gdansker Lenin-Werft unter der Führung des jungen Lech Walesa. Und »In a Vice« (»Szoritásban«, VI) zeigt den ungarischen »Weg der Erneuerung« als Untergang eines Stahlwerks.

Kuratorin Grit Lemke stellt sogar den von Historikern favorisierten Begriff der Friedlichen Revolution in Frage: »Der friedliche Aufstand hierzulande lässt sich nicht trennen vom Blutvergießen in Rumänien«, sagt Lemke. »Timisoara, Decembrie 89« (III) dokumentiert diese Proteste.

Auch auf Deutschland fällt der Blick mit der Realsatire »Deutsch und Frei. Geschichten aus dem Weihnachtsland« (I) von 1990 und »Leipzig im Herbst« (I) von Andreas Voigt und Gerd Kroske. Von Voigt wird ebenfalls »Letztes Jahr – Titanic « (VII) gezeigt, der rund 20 Jahre im Archiv schlummerte. Ein surreales, gespenstisches Porträt einer Kneipenwirtin, eines Arbeiters und anderer im letzten Jahr der DDR – ein karnevalesker letzter Tanz auf dem untergehenden Schiff.


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