Ein halb zerbrochenes Schild der Deutschen Bahn verbietet Unbefugten den Zugang zum Gelände. Der ausgetretene Trampelpfad, der durch ein offenes Stück Zaun am Tor vorbeiführt, verrät die zahlreichen Spaziergänger, die sich nicht daran halten. Auch die beiden Botaniker Oliver Thier und Peggy Seltmann vom Verein Environmental Education And Science (ENEDAS) führen hier Besuchergruppen auf das Gelände des brachliegenden Teils des Plagwitzer Bahnhofs.
Ein halb zerbrochenes Schild der Deutschen Bahn verbietet Unbefugten den Zugang zum Gelände. Der ausgetretene Trampelpfad, der durch ein offenes Stück Zaun am Tor vorbeiführt, verrät die zahlreichen Spaziergänger, die sich nicht daran halten. Auch die beiden Botaniker Oliver Thier und Peggy Seltmann vom Verein Environmental Education And Science (ENEDAS) führen hier Besuchergruppen auf das Gelände des brachliegenden Teils des Plagwitzer Bahnhofs.
Auf den ersten Blick wirkt das Gelände wenig einladend. Glasscherben bedecken weite Teile des gepflasterten Vorplatzes. Die Fenster des Hauptgebäudes sind zerbrochen, die Eingänge zugemauert, die Wände mit Graffitis überzogen. Das Dach des Verladeschuppens ist löchrig und teilweise eingestürzt. Es riecht nach Hundekot und alten Holzschutzmitteln. Seitdem weite Teile der Leipziger Industrie nach der Wende zusammengebrochen sind, ist der Bahnhof nutzlos geworden. Mit rund 20 Hektar ist er eine der größten Brachen in Leipzig. Auf der Fläche ließen sich 28 Fußballfelder anlegen.
Doch das verfallende Areal hat auch eine schöne Seite. Thier und Seltmann kommen wegen der Fülle der Pflanzenarten her. »Industriebrachen sind die artenreichsten städtischen Ökosysteme, viel stärker als Parks und Grünanlagen«, sagt Peggy Seltmann. Vom Eingang an der Naumburgerstraße aus führt links eine gepflasterte Straße an den Gebäuden vorbei. Rechts davon lagen früher die Gleise. Heute wuchern dort zahllose Gräser und Kräuter. An den Gebäudemauern und auf Backsteintreppen, überall wo der Wind sich in einer Ecke gebrochen und ein Stück Erde zurück gelassen hat, schießen Pflanzen in die Höhe. Die Ökologen sprechen von Pionier-Vegetation.
Thier und Seltmann bleiben vor einem kleinen Riss im Boden der Bahnsteigrampe stehen. Drei unscheinbare grüne Sprösslinge wiegen sich im sommerlichen Wind. Nichts deutet darauf hin, dass sie von weit entfernten Erdteilen eingewandert sind. Seltmann zeigt auf eine von den dreien und erklärt: »Das schmalblättrige Greiskraut, das kam mit Baumwolletransporten aus Südafrika.« Direkt daneben steht eine sparrige Flockenblume, mit Transporten aus Asien eingewandert. Das dritte Gewächs kommt aus Kanada. »Die Goldrute ist als Gartenpflanze importiert wurden, weil sie so hübsch gelb blüht. Die ist dann ausgebüchst, da sie unheimlich viele Samen und unterirdische Ausläufer ausbildet.«
Mit den Blüten kommen die Insekten. Wenn es heiß ist, ertönt das tausendfache Zirpen von Heuschrecken und Grillen. Eine begehrte Nahrungsquelle für allerlei winzige Tierchen ist der Wiesenbärenklau. Die Pflanze sprießt hundertfach aus den Ritzen im Bahnsteig empor. Doch auch Menschen können hier Essbares finden. Direkt unterhalb der Rampe stößt Peggy Seltmann an einer Feuchtstelle auf die nordamerikanische Nachtkerze. »Die Wurzel ist pfahlartig, wie bei Möhren, bloß nicht so ganz stark. Das wurde früher gegessen.« Und Thier fügt hinzu: »Wer sich mit Pflanzen beschäftigt, beschäftigt sich auch immer mit einem Stück Kulturgeschichte.«
Ein ungefährlicher Spielplatz ist das Gelände jedoch nicht. Die Dächer der Gebäude sind morsch. Im Boden schlummern neben Unkrautvernichtungsmitteln, die früher gegen der Bewuchs verkippt wurden, auch Öle und andere industrielle Reste. Inzwischen träumt die Initiative Bürgerbahnhof Plagwitz davon, das Gelände eines Tages kulturell nutzbar zu machen. Allerdings müsste dafür die Stadt der Deutschen Bahn das Gelände abkaufen. Würde das Unternehmen die 48 Euro verlangen, die ein Quadratmeter in Leipzig derzeit im Durchschnitt kostet, würde der Kauf ziemlich teuer.
Auch die Artenvielfalt bleibt nicht ohne menschliche Hilfe. »Wenn man die Fläche hier sich selbst überlässt, kommen irgendwann die Büsche, dann wird der Boden nährstoffreicher und dann ändert sich die Pflanzenzusammensetzung wieder. Würde jede menschliche Aktivität eingestellt, würde hier – in geologischen Zeiträumen – irgendwann wieder ein Buchenwald wachsen«, erklärt Thier. Das wäre das Ende der multikulturellen Pflanzenvielfalt.
Die beiden Ökologen Thier und Seltmann verlassen das Gelände auf dem gleichen Weg auf dem sie gekommen sind. Dann schauen sie noch auf einen Abstecher beim Jahrtausendfeld vorbei, der nächsten großen Brache, die in unmittelbarer Nähe liegt. Auch dort gibt es viele Arten zu entdecken.